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Britta Haßelmann
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Fred G. •

Frage an Britta Haßelmann von Fred G. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Frau Haßelmann,
Drastische Maßnahmen wie ein harter Lockdown sind in der Pandmie sicherlich für einen begrenzten Zeitraum notwendig. Irgendwann sind aber alle Mittel ausgeschöpft, die man der Bevölkerung einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft zumuten kann und man muss möglicherweise den Begriff der Solidarität (nämlich mit allen sozialen Gruppen) umdenken, weil die sozialen, wirtschaftlichen und letztendlich auch gesundheitlichen Folgen zu groß werden und den Nutzen eines Lockdowns überwiegen könnten. Man muss dann vielleicht mit einer höheren Virusverbreitung leben und sich auf verträglichere Maßnahmen wie flächendeckende Schnelltests, Masken usw. beschränken.
Deshalb meine Fragen:
1. Denken Sie über ein solches Szenario nach, in dem man irgendwann nicht mehr vorwiegend auf epidemiologische Werte schaut und trotzdem stufenweise lockert? Oder sind für Sie persönlich Inzidenzzahlen und die Situation der Krankenhäuser immer das Maß aller Dinge, auch wenn der Lockdown vielleicht 6, 7, 8 Monate dauert und an anderer Stelle teils schwer abzuschätzende Schäden anrichtet?
2. Was tun Sie und Ihre Fraktion, um diese Schäden einzurechnen und mit dem Nutzen eines harten Lockdowns abzuwägen?
3. Setzen Sie sich dafür ein, dass im Bundestag mehr über diese schwierigen Dilemmata diskutiert und auch entschieden wird oder nehmen Sie die aktuelle Dominanz von Kanzleramt und Landesregierungen gegenüber den Parlamenten in Kauf?

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Goldmann,

Die pandemische Lage hat sich merklich entspannt. Wir befanden uns vor nicht einmal zwei Monaten noch mitten in der dritten Welle der COVID 19-Pandemie. Um diese zu brechen und eine Überlastung unseres Gesundheitssystems abzuwenden, brauchten wir konsequente und verhältnismäßige Maßnahmen. Eine bundesgesetzliche Regelung der wesentlichen Fragen der Pandemiebekämpfung durch den Bundestag war seit langem überfällig und wurde von CDU/CSU und SPD zu lange verschleppt. Eine epidemische Lage nationaler Tragweite brauchte auch eine nationale Antwort.

Wir hielten es deswegen für richtig, dass nun eine bundeseinheitliche Notbremse beschlossen wurde. Um eine weitere Eskalation der Lage zu verhindern, haben wir Grüne uns in zahlreichen Gesprächen mit der Koalition für dringende Nachbesserungen an diesem Paket eingesetzt und konnten Verbesserungen erzielen: schärfere Regelungen fürs Homeoffice, stärkere Schutzvorschriften für die Schulen und Regelungen, die die Notbremse lebenspraktischer und damit umsetzbarer machen.

Dennoch reichte diese Notbremse nicht aus. Das Virus war uns immer einen Schritt voraus. Eine zu einseitige Politik, die vor allem Restriktionen für Bildung und Privatleben vorsah, war und ist weder konsequent genug, um uns vor der Epidemie zu schützen, noch verhältnismäßig. Angesichts der angespannten Pandemielage standen wir einer schnellen Umsetzung jedoch nicht im Weg und haben uns deshalb bei der Abstimmung zum Gesetzesentwurf enthalten.

Nachfolgend finden Sie aufgeschlüsselt, was wir in den Gesetzentwurf hineinverhandelt haben und welche Punkte uns fehlen, uns aber weiterhin stark machen um eine vierte Welle zu verhindern:

Was konnten wir verbessern?

* Besserer Schutz von Beschäftigten: Die Regelungen zur Homeoffice-Angebotspflicht wurden verschärft. Das Arbeiten von Zuhause darf vom Arbeitgeber nur noch verweigert werden, wenn zwingende betriebliche Gründe dagegen stehen.

* Ausgewogenere und trotzdem wirksame Regeln bei Freizeitaktivitäten und für Familien mit Kindern, indem die unterschiedlichen Infektionsrisiken in Innen- und Außenbereichen besser unterschieden werden: Die Außenbereiche von Zoos und botanischen Gärten konnten unter strengen Schutz- und Hygienevorschriften geöffnet und Sport für Kinder bis 14 Jahren ist auch in 5er Gruppen im Freien möglich machen.

* Die Transparenz bei den Corona-Regeln wurde verbessert: Die Geltungsdauer der Maßnahmen musste nun unverzüglich ortsüblich bekanntgegeben werden.

Was fehlt noch?

* Es war richtig und wurde von uns seit langem gefordert, die Debatte und den Beschluss von Maßnahmen und Beschränkungen zur Eindämmung der Corona-Epidemie in den Deutschen Bundestag zu holen. Dieser schwache Start aber verdient kein Lob und mit Blick auf den Herbst muss das Parlament weiter gestärkt werden.

* Es ist absolut notwendig, dass Infektionen am Arbeitsplatz wirksam durch Testen und Home Office eingedämmt werden können. Das Testen am Arbeitsplatz ist ein Weg, weitere Infektionsausbrüche zu vermeiden und die Beschäftigten und ihre Familien zu schützen. Eine Testpflicht kann zudem zur Eindämmung der Deltavariante und zur Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems beitragen und dadurch können Betriebsschließungen auch verhindert werden. Der Arbeitsschutz für die Beschäftigten ist ohne Testpflicht nicht gegeben, weil so auch nicht getestete, womöglich erkrankte Personen nicht von der Arbeitsstelle fern gehalten werden können.

* Dies gilt auch für Schulen und Kitas. Kinder sind von den neuen Mutationen stark betroffen. Zum Schutz der Kinder und Eltern sollten wir dafür sorgen, dass dieser Schutz wirklich gewährleistet ist. Deshalb ist es dringend notwendig, dass weitere Testmöglichkeiten und verbindliche Hygienekonzepte beim Wechsel- und Präsenzunterricht für alle Schüler:innen und Lehrkräfte unterstützt werden.

* Ausgangssperren können aufgrund ihrer freiheitsbeschränkenden Wirkung als Ultima ratio nur Teil eines schlüssigen Gesamtkonzepts sein. Durch ihr Zögern für Beschränkungen in der Arbeitswelt gefährdete die Bundesregierung die Akzeptanz der Menschen für die Maßnahmen und verursachte eine erhebliche Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit von Ausgangsbeschränkungen.

* Die Notbremse greift bei einer Inzidenz von 100, allerdings muss auch vor dem Ziehen der Notbremse schon gebremst werden. Das heißt, auch schon bei Inzidenzen unter 100 müssen entsprechende Schritte und Maßnahmen greifen, die der raschen Verbreitung des Virus entgegenwirken. Dennoch reichen Inzidenzen alleine nicht aus. Es braucht mehrere Faktoren, um das Infektionsgeschehen künftig besser einordnen zu können. Wir möchten Folgendes mit einbeziehen: Testungen, Impfquote, Intensivbettenbelegung und die Überlastung des Gesundheitswesens, weil die Inzidenz alleine nicht mehr aussagekräftig genug ist.

Insgesamt müssen wir die Infektionslage unter Kontrolle behalten und dort hinkommen, dass wieder möglichst viele Menschen mitziehen. Schon deshalb, weil viele Infektionen im privaten Bereich stattfinden. Daher brauchen wir konsequente Maßnahmen.
Deshalb schlagen wir weiterhin einen Stufenplan mit einheitlichen Risikostufen, Kennzahlen sowie wirksame und konsequente Maßnahmen, sowohl für Eskalation als auch für Deeskalation, vor. Unseren Antrag zu unserem 5-Stufenplan und weitere Informationen können Sie hier finden: https://www.gruene-bundestag.de/themen/corona-krise/ein-stufenplan-fuer-perspektive-und-hoffnung Für die Verabredung wirksamer Maßnahmen ist zudem ein permanenter Austausch zwischen Parlament und Wissenschaft unerlässlich. Unsere Forderung nach der Einrichtung eines interdisziplinären Pandemierates wird von den Regierungsfraktionen leider über einem Jahr abgelehnt. Unseren Antrag zu einem wissenschaftlichen und interdisziplinären Pandemierat finden Sie hier: https://www.gruene-bundestag.de/themen/gesundheit/pandemierat-jetzt-gruenden

Ich kann auch Ihre Kritik bezüglich den Auswirkungen auf die Wirtschaft gut nachvollziehen. Mit ihrem chaotischen Krisenmanagement hat die Bundesregierung viel Vertrauen verspielt. Obwohl hohe Summen zur Unternehmensrettung bereitgestellt wurden, hat das vorhandene Geld viele Unternehmen nicht ausreichend erreicht. Nach über einem Jahr Corona-Krise und Monaten im Lockdown herrschen bei vielen betroffenen Unternehmen große Verzweiflung und massive Existenzängste. Seit Beginn der Pandemiebekämpfung setzen wir uns für einfache, planbare und verlässliche Unterstützung ein, die bei den betroffenen Unternehmen auch wirklich ankommt.

Wir müssen dieser viel zu lange anhaltenden Krise endlich engagiert begegnen, um der Wirtschaft zu helfen. Die Bundesregierung hat wertvolle Zeit verstreichen lassen. Nach über einem Jahr Pandemie hat die Koalition aus Union und SPD ein Gesetz vorgelegt, durch das erstmals Schutzmaßnahmen direkt durch den Bund erlassen werden. Es fehlt aber weiterhin ein schlüssiger Stufenplan mit wirksamen Maßnahmen auch unterhalb einer Inzidenz von 100, der der Wirtschaft Planungssicherheit und Perspektiven gibt.
https://www.gruene-bundestag.de/themen/corona-krise/ein-stufenplan-fuer-perspektive-und-hoffnung

Zudem bleibt trotz zahlreicher Nachbesserungen bei den Überbrückungshilfen, das Grundproblem fehlender Verlässlichkeit sowie übergroßer Komplexität bestehen. Die Unternehmen brauchen einfache Hilfen, die flexibles Agieren in der Pandemie erleichtern. Das betrifft beispielsweise einen Unternehmerlohn und eine bessere Übernahme von Personalkosten, um teilgeschlossene Unternehmen besser zu unterstützen. Sollte es bei Corona-Hilfen zu Rückzahlungen kommen, sollen diese großzügig gestundet werden. Wir werden uns weiterhin dafür einsetzen, dass die Hilfen verbessert werden. Mehr Informationen dazu finden Sie in unserem parlamentarischen Antrag:
https://dserver.bundestag.de/btd/19/271/1927194.pdf

Für die Unternehmen, deren wirtschaftliche Existenz infolge der Corona-Pandemie bedroht ist, die aber aufgrund von speziellen Fallkonstellationen bei den bestehenden Unterstützungsprogrammen nicht berücksichtigt sind, soll es jetzt Härtefallhilfen geben, die über die Länder vergeben werden. Wir hätten dem eine einfachere und flexiblere Ausgestaltung der Überbrückungshilfen vorgezogen, werden aber jetzt genau hinschauen, ob die Härtefallhilfen tatsächlich greifen.

Die Bundesregierung muss jetzt eine Perspektive für die wirtschaftliche Erholung nach Corona schaffen. Bei vielen kleinen und mittleren Unternehmen ist nach mehr als einem Jahr der Krise die Eigenkapitalbasis gefährlich ausgezehrt. Ihr Neustart nach der Krise ist gefährdet. Der angekündigte Eigenkapitalzuschuss (im Rahmen der Überbrückungshilfen) ist hier nur ein erster Schritt. Damit alle Unternehmen vom erhöhten Verlustrücktrag besser profitieren können, wollen wir erreichen, dass Corona-Verluste mit den Gewinnen der vorangegangenen vier Jahre verrechnet werden dürfen. Das schafft schnell Liquidität und nutzt dem Mittelstand mehr, als nur die Verrechnung mit den Gewinnen des Vorjahres zu erhöhen, wie es die Bundesregierung gemacht hat.

Wir werden uns weiterhin dafür einsetzen, dass wir so gut wie möglich durch diese Krise kommen. Bleiben Sie gesund.

Mit freundlichen Grüßen

Britta Haßelmann

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