Was sind die Gründe, warum die AfD in Osten sehr hoch abschneidet? Kann man sagen, dass die deutsche Wiedervereinigung nicht abgeschlossen ist?
Sehr geehrter Herr Ramelow,
die EU Wahl ist vorbei. Bei den Ergebnissen konnte man sehen, dass die rechtsextreme Partei AfD besonders in Osten gepunktet hat. Es sind größtenteils über 30% gewesen. Im Westen haben eher die CDU und viele Parteien im linken Spektrum gepunktet.
Warum schneidet die AfD, obwohl sie da als rechtsextrem eingestuft wird, dort am besten ab?
Bald sind auch die Landtagswahlen und aktuell sind nur die CDU, die Linke und vielleicht BSW die einzigsten Gegner für die AfD.
Im Westen ist es verteilter.
Daraus kann man die Frage stellen, ob überhaupt die deutsche Wiedervereinigung wirklich abgeschlossen oder gestoppt sei? Hat die frühere/aktuelle Bundesregierung für den Osten zu wenig getan oder was fehlt dort?
Es muss irgendwo eine Erklärung geben, warum Menschen bereit sind eine rechtsextreme Partei zu wählen, wo selbst die führenden Politiker die NS Zeit verharmlosen oder sehr viele Skandale (Krah, Bystron) rumkommen.
Mit freundlichen Grüßen
Sehr geehrter Herr B.
Danke für Ihre Anfrage.
In der Tat beschäftigt mich seit sehr langer Zeit das Verhältnis Deutschland Ost und Deutschland West. Die Frage sie man sich allerding stellen muss sollte in zwei Richtungen betrachtet werden. Einserseits - was bedeutete eigentlich Deutsche Einheit, das formale vereint sein kann ja niemand bestreiten und die wirtschaftliche Stärke Ostdeutschlands ist für mich überall sichtbar, insofern hat sich in den letzten 34 Jahren sehr viel bewegt, aber die emotionale Wahrnehmung eines vereinten Deutschlands ist bei vielen Menschen nicht angekommen.
Das hängt mit Verletzungen zusammen, die in der Wende und nach der Wende durch die Transformation geschehen sind. Da muss man immer unterscheiden zwischen Verletzungen, die aus der DDR-Zeit stammen und die <Menschen ertragen mussten, die sich sehr darauf gefreut haben, dass aus den Friedensgebeten anschließend mehr wurde und den Verletzungen, die nach der deutschen Einheit eingetreten sind unter anderem durch Treuhandentscheidungen und Zusammenbrechen der Märkte. Auch hier sei erwähnt, dass dadurch auch sehr viel neue Firmen entstanden sind und Potential die erkannt haben, dass sie gute Ideen haben die sie dann zu neuen Betreiben haben werden lassen. Immerhin hat Thüringen mittlerweile 100 Technologie – oder Weltmarktführer, im Klein und Mittelständischen Bereich. Auf solche Entwicklungen kann man sehr stolz sein, wenn man sie wahrnehmen würde und sie spüren könnte. Hier liegt ein teil des Problems.
Andrerseits gäbe es in der deutschen Einheit heute noch große Aufgaben, die wir gemeinsam stemmen können. Zum Beispiel längeres Gemeinsames Lernen in der Schule und sein Schulsystem indem man den Einzelnen fördert aber die Kinder und Jugendlichen bist zu Klasse Acht zusammen beschult. Wir haben es in Thüringen angefangen mit der Thüringer Gemeinschaftsschule und es geht nicht darum, das Gymnasium abzuschaffen sondern es einzubinden und einzubeziehen in ein Schulsystem, ein Bildungssystem bei dem die sozialen Lernprozesse auch mit einbezogen sind. In Ostdeutschland war das völlig normal in Westdeutschland völlig unbekannt. Die Fragen wie machen wir Gesundheitsreform am Beispiel der Krankenhausplanung. Hier wäre es notwendig, Landambulatorien wieder zu ermöglichen, mit Gemeindeschwestern, gut ausgebildeten Krankenschwestern, die im Osten die Kultfigur „Agnes“ dargestellt hat. Solche Krankenschwestern kannten wir in Westdeutschland nicht und sie wären gut für einen Prozess der deutschen Einheit, dass Ostdeutsche erkennen, Das reformstau und Veränderungsnotwendigkeit nach vorne im positiven Sinne aufgelöst werden kann, wenn wir auch Dinge mit einbringen, die als Ostdeutsch wahrgenommen werden. Dieser Teil von positiver Füllung wären ein Lernprozess für ganz Deutschland. Auch das Thema Kindergarten sei zu erwähnen. Immerhin haben wir in Thüringen 96% aller Kinder im Kindergarten und 10 Stunden Servicezeit jeden Tag sind selbstverständlich. In Westdeutschland ist so etwas noch immer völlig unbekannt. Das sind für mich Ansatzpunkte, mit denen miteinander einen Wachstumsprozess nach vorne gestalten könnte. Aber, ob die Deutsche Einheit ein einheitliches Deutschland sein müsste – da habe ich meine Zweifel. Daher verweise ich auf das neue Buch „Ungleich vereint“ von Steffen Mau (erschienen im Suhrkamp Verlag).
Als geborener Niedersache, der in Rheinland-Pfalz dann in die Schule gegangen ist habe ich schon die Unterschiede zwischen de Bundesländern im Bildungssystem spüren müssen.
Aber als wachsamer Mensch weiß ich, dass die Entlohnungsprinzipien zwischen Nord und Süd immer schon different waren. Auch ist Arbeitszeit, Arbeitsvolumen, Tarifrecht und Ähnliches in den Bundeländern höchst unterschiedlich entwickelt. Es ist also nicht einfach nur ein Ost-Westthema, sondern ein Thema, wie wir Vielfalt in Einheit gestalten. Ich glaube auch auf diesen Aspekt muss man deutliche hinweisen, dass es ein Missverständnis wäre, wenn alles gleich sein müsste. Aber wenn die ehemalige DDR wieder erkennbar wird, wenn es darum geht, wie Armut sich abbildet, wie Vermögensstrukturen oder Vererbungsstrukturen darstellen, dann wir man sehr schnell merken: aha da ist die alte DDR doch sichtbar. Genauso wie im Kindergarten und der Kindergartenbetreuung eben die DDR im positiven Sinne noch erkennbar ist. Diese Unterscheidungen sollten wir deutlicher machen um einfach verstehbarer zu machen, dass Einheit in Vielfalt auch ein gutes Ziel sein kann.
Eine letzte Betrachtung und da habe ich in meinem Tagebuch und in dem Artikel beim Redaktionsnetzwerk Deutschland aufgezeigt, nämlich, wenn man dann auch westdeutscher Sicht Reflexe hat und reflexartig nur die 30% AfD alleine betrachtet, wir man die Tiefe des Problems einfach nicht verstehen, Man verstärkt es sogar, indem man die 70% der Menschen, die nicht AfD gewählt haben, einfach mit der blauen Farbe überkleistert. Natürlich ist an dem Wahlergebnis nichts schön zu reden. Aber die Frage, ob man 70% ermutigt oder entmutigt ist eine Frage, die sich jeder Demokrat stellen sollte. Deswegen ist für mich beim Thema Deutsche Einheit immer zu betrachten, ist das Glas halbvoll oder halbleer. Für mich ist immer halb voll und deutlich über dem Halbstrich schon angeguckt worden.
Eine letzte Betrachtung will ich auch noch erwähnen, nämlich die Frage, ob andere Staaten, die solche Teilungsprozesse und unterschiedliche Entwicklungsprozesse hatten eigentlich auf einheitlichem Kurs sind. Es lohnt sich Italien unter diesem Aspekt anzuschauen. Es lohnt sich, Belgien unter diesem Aspekt anzusehen. Es lohnt sich Spanien unter diesem Aspekt anzugucken. Und das Verhältnis Südstaaten/Nordstaaten in Amerika und spätestens da wird man merken, dass es eine Illusion ist, wenn man einfach nur denkt alles kann man als einen Gleichenprozess arrangieren. Das einzige, was wir wirklich vergleichbar machen sollten wären die sozialen Sicherungssysteme und die Standards. Deswegen muss auch um die Tarifrechtlichen und Einkommensfragen besser aufzustellen auch die Frage der gewerkschaftlichen Bindung als aktiver Part immer wieder der Bevölkerung und den Menschen in den neuen Ländern selber klar gemacht werden. Wer bessere löhne will, der muss auch in der Gewerkschaft kämpfen. Und wer einen besseren Kindergarten, eine bessere Kindergartendichte haben will, der muss auch in Westdeutschland kämpfen. Insoweit lohnt es sich, aus den Unterschieden und den Differenzen den Ansatz zu finden ,wie wir gemeinsam das Land verändern - unsere Heimat gestalten. Das wäre mein Ziel
Tagebucheintrag:
https://www.bodo-ramelow.de/2024/06/zuerst-thueringen/
Artikel RND :