Frage an Aydan Özoğuz von Björn M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Özoguz,
mit Verwunderung muss ich heute, den 8.3., in vielen Leitmedien vernehmen, dass Sie Verständnis für die große Zahl vorallem türkischstämmiger Mitbürger haben, die sich nach einem "starken" Mann sehnen. Es verwundert mich sehr, denn demnach dürften Sie auch Verständnis dafür haben, dass sich zunehmend mehr Menschen "dt. Abstammung" (was auch immer das ist), ebenfalls nach starken Führungspersönlichkeiten sehnen. Wie kann es aber sein, dass Sie für die Sehnsüchte der einen, so viel Verständnis, für die Sehnsüchte der anderen hingegen keinerlei Verständnis aufbringen?
2. würde mich interessieren, was denn Ihrer Meinung nach getan werden könnte, um die türkischstämmigen Mitbürger hier besser zu integrieren, denn meiner subjektiven Beobachtung nach, gibt sich Deutschland institutionell bereits viel mehr Mühe bei der Integration als irgendein anderes europ. Land. Ich habe selbst mehrere Jahre als Ausländer in anderen Ländern zugebracht & dort hat es noch nicht einmal ansatzweise so etwas wie z.B. unsere Integrationsprogramme gegeben. Zumal: es gibt doch sehr viele positive Beispiele gelungener Integration! Was haben diese denn richtig gemacht, was bei den anderen - weniger gut integrierten - offensichtlich schiefgegangen ist, denn für beide stehen doch die gleichen Integrationsmöglichkeiten zur Verfügung, oder etwa nicht?
3. Ich bekomme von vielen türk. Mitbürgern auf die Frage, als was sie sich denn empfinden, fast immer die Antwort "in erster Linie als Türken" auch dann, wenn sie über die dt. Nationalität verfügen. Auf die Frage warum, werden nicht etwaige Integrationshemmnisse genannt, sondern banalere und auch viel menschlichere Gründe, dass nämlich die Türkei die Heimat der Eltern und Großeltern sei. Wie kommt es also, dass von Ihrer Seite aus immer wieder das Argument bemüht wird, es mangele an besseren Integrationsmöglichkeiten, daher empfänden diese sich immer noch als Türken? Das klingt doch sehr nach Augenwischerei...
Vielen Dank
Sehr geehrter Herr Mahr,
vielen Dank für Ihre Fragen.
Ich habe im Interview mit dem NDR kein Verständnis für Sehnsüchte nach einem sogenannten „starken Mann“ geäußert, sondern nur einen möglichen Erklärungsansatz für die Unterstützung Erdogans erläutert. Die gewählte Überschrift zum Interview („Özoguz versteht Sehnsucht nach ‚starkem Mann‘“) auf http://www.ndr.de fußte nicht auf meinen Aussagen. Das hat auch die Redaktion des Senders am 9. März 2017 mit einer Anmerkung zum Artikel richtiggestellt. Diese ist online zu finden unter: http://www.ndr.de/nachrichten/Oezoguz-Deutsch-Tuerken-noch-besser-integrieren,oezoguz150.html .
Ihre zwei weiteren Fragen zur Integration und Identifikation von türkeistämmigen Menschen in Deutschland sind natürlich sehr komplex und können (wie Sie völlig richtig mit dem Hinweis auf sehr viele „positive Beispiele“ andeuten) sicher nicht pauschal beantwortet werden. Ein entscheidender Punkt ist aus meiner Sicht, dass bereits in den Jahrzehnten des Gastarbeiterabkommens mit der Türkei viele Fehler und Versäumnisse entstanden sind, die sich bis heute negativ auf die gesellschaftliche Einbindung von Menschen mit türkischen Wurzeln auswirken. Zu lange war man davon ausgegangen, dass diese Menschen nicht dauerhaft in Deutschland bleiben würden. Eine gezielte Sprachförderung oder andere Maßnahmen zur Förderung einer gesellschaftlichen Integration blieben über Jahrzehnte aus. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die zweite oder dritte Generation. Gleichzeitig spielen aber (hinsichtlich der „positiven Beispiele“) sicher auch sozio-ökonomische Faktoren und die Vorbildung der Elterngeneration eine große Rolle für den Integrationserfolg folgender Generationen. Hier kann man nicht alle türkischen Familien gleichsetzen.
Die Frage der emotionalen Identifikation ist für mich noch schwerer zu beantworten, da jeder etwas anderes unter einem Begriff wie z.B. „Heimat“ versteht und es gänzlich darauf ankommt, mit wem man darüber spricht. So kenne ich wie Sie natürlich auch Menschen, die sich „in erster Linie als Türken“ bezeichnen würden, neben den anderen, die beides für sich vereinen. Meine Generation ist ja mit der Zuschreibung Türke/Türkin zu sein hier groß geworden. Einbürgerung war gar kein Thema. Da ist es doch weder verwunderlich noch verwerflich, sich z.B. „in erster Linie als Türke“ zu fühlen. Das sagt aber natürlich überhaupt nichts über die jeweilige politische Meinung oder Verortung eines Menschen aus. Uns kann aber das Empfinden vieler, nicht als Deutsche oder vollwertiges Teil unserer Gesellschaft anerkannt zu werden, nicht zufrieden stellen. Diskriminierungserfahrungen, isolierte Wohnverhältnisse (deren Grundlagen auch vor langer Zeit entstanden) und Benachteiligungen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt aufgrund von türkisch klingenden Nachnamen (wie sie z.B. der Sachverständigenrat Deutscher Stiftungen für Integration und Migration feststellen konnte) – das sind alles Gründe, weshalb selbst junge Deutsch-Türken, die nie woanders gewohnt haben als in Deutschland, sich eher als Türken definieren, obwohl sie die Türkei vielleicht nur aus dem Familienurlaub kennen.
Es gilt daher, um es bildlich auszudrücken, die an manchen Stellen entstandenen Gräben zu schließen, und das bedarf der Initiative von allen Seiten. Politik schafft Rahmenbedingungen, daneben bedarf es aber auch mehr Engagement von Seiten türkischer Eltern, weniger Vorbehalte auf Seiten einstellender Unternehmen, mehr Kooperation zwischen türkischen Gemeinden und Kommunen und so weiter. Das wird nicht von heute auf morgen alles ändern können, schon gar nicht in politisch angespannten Zeiten, in denen die aggressive Rhetorik aus der Türkei auch in Deutschland tiefe Gräben zieht. Ich bin guter Dinge, dass eines Tages in Deutschland nicht mehr pauschal über die vorbildliche oder defizitäre Integration einzelner Bevölkerungsgruppen gesprochen wird, sondern einzig und allein Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit für alle hier lebenden Menschen im Fokus unseres Strebens stehen.
Mit freundlichen Grüßen
Aydan Özoğuz, MdB