Frage an Anna Lührmann von Jens H. bezüglich Wissenschaft, Forschung und Technologie
Sehr geehrte Frau Lührmann,
zunächst möchte ich für die Möglichkeit danken, Fragen auf diesem Weg direkt an Sie richten zu können.
Das Politikfeld "Bildung und Forschung" ist in vielen Diskussionen und Debatten im Bundestag vertreten. Der Schwerpunkt liegt dabei oft im Bereich der universitären und akademischen Bildungswege (Bsp.: Exzellenzinitiativen, DFG, etc). Die berufliche Bildung im "Dualen System", die nach wie vor ein wesentlicher Bestandteil in unserem Bildungswesen ist (die Mehrheit einer Alterskohorte besucht eine öffentliche Berufsschule), wird jedoch in vielen Beiträgen nur sehr rudimentär deutlich. Meine Fragen dazu:
1. Welche Reformansätze bringt Ihre Fraktion im Bereich der beruflichen Bildung ein und wie sehen Sie die Realisierungschancen?
2. Was sind Ihrer Meinung nach die Zukunftsperspektiven der öffentlichen Berufsschulen im Dualen System?
3. Wie stehen Sie zu den Kompetenzverteilungen zwischen Bund und den Ländern im Bereich der beruflichen Bildung?
Ich wünsche Ihnen alles Gute und hoffe auf eine aufschlussreiche Antwort.
Vielen Dank !
Mit freundlichen Grüßen,
Jens Happel
Lieber Herr Happel,
vielen Dank für ihre Fragen zum Thema "berufliche Bildung", auf die ich wie folgt antworten möchte.
Bündnis90/ Die Grünen setzen sich seit geraumer Zeit verstärkt mit dem Thema der nicht-akademischen Ausbildung auseinander. Mit dem Fraktionbeschluss "Neue Wege für die Ausbildung" vom September letzten Jahres haben wir auf mehrere Probleme aufmerksam gemacht, die innerhalb der jetzigen Ausbildungssituation deutlich werden:
- Trotz des gesamtwirtschaftlichen Aufschwungs und eines Sonderprogramms zur Schaffung von mindestens 50 000 betrieblichen und außerbetrieblichen Ausbildungsplätzen konnte mehreren zehntausend Auszubildenden kein Ausbildungsplatz vermittelt werden.
- Die von der Bundesregierung gefeierten steigenden Ausbildungszahlen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich insbesondere große Unternehmen nur ungenügend für die Schaffung von Ausbildungsplätzen engagieren. Die durchschnittliche Ausbildungsquote der DAX-Unternehmen für 2006 betrug gerade einmal 5,1 Prozent. Dass dennoch mehr Bewerberinnen und Bewerber für einen Ausbildungsplatz vermittelt werden konnten, resultiert daraus, dass immer mehr Jugendliche öffentlich geförderte Ausbildungsplätze bekommen.
- Die klassische duale Ausbildung verliert zunehmen an Bedeutung. Nur noch 58 Prozent der Auszubildenden befinden sich in einer betrieblichen Ausbildung. Stattdessen gewinnt das so genannte Übergangssystem immer mehr an Bedeutung: hierzu sind alle Maßnahmen und Programme zu zählen, innerhalb derer eine "berufliche Grundbildung" stattfindet, ohne dass die bzw. der Auszubildende am Ende einen qualifizierenden Abschluss erhält. Dieser Start ins Berufsleben führt häufig zu Unsicherheit und zu einer potentiellen Prekarisierung bezüglich der eigenen beruflichen Perspektive.
- Schließlich sind wachsende Probleme bei der Vermittlung von Bewerberinnen und Bewerbern für einen Ausbildungsplatz zu verzeichnen, da häufig die individuelle Bildung den Anforderungen des Ausbildungsbetriebes nicht mehr genügt. Dies liegt zum einen an einem Wandel der Inhalte der beruflichen Ausbildung und der dafür notwendigen Einstiegsqualifikationen. Diese decken sich zum Teil nur ungenügend mit dem in der Schule vermittelten Stoff. Als gravierender dürfte aber das strukturelle Defizit unseres Bildungssystems angesehen werden: Internationale Studien wie PISA zeigen, dass das deutsche Bildungssystem vor allem Kindern aus sozial schwachen und Migrantenfamilien benachteiligt. Darüber hinaus bedeutet ein Hauptschulabschluss für eine Anwärterin bzw. einen Anwärter auf einen Ausbildungsplatz oftmals automatisch eine Absage, da Arbeitgeber- und Unternehmerverbände diesen Abschluss mit einer "mangelnden Ausbildungsreife" gleichsetzen. Zudem macht die hohe Zahl der Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher einen weiteren Schwachpunkt unseres Bildungssystems aus.
Bündnis 90/ Die Grünen fordern deshalb schon seit langem, dem strukturellen Wandel auf dem Arbeitsmarkt offensiv mit einer Kombination aus verschiedenen Maßnahmen zu begegnen. Drei wichtige Punkte möchte ich dazu nennen:
- Das so genannte "Duale System" in seiner jetzigen Form muss erweitert werden. Dies heißt keinesfalls, das bewährte Prinzip der Dualität – d.h. die Verbindung von schulischem Lernen und Praxisanteilen im Betrieb – abzuschaffen. Vielmehr sollte die Lösung darin liegen, das duale Prinzip auch jenseits bisher bekannter betrieblicher Ausbildungen zu realisieren. Dazu müssen alle Lernorte und ihre Kooperation in den Blick genommen werden. Schulische und betriebliche Elemente müssen mehr, besser und in vielfältigerer Weise als bisher miteinander kombiniert werden.
- Die Hauptverantwortung der Unternehmen für die Schaffung von Arbeitsplätzen muss deutlich gemacht werden. Für eine vorausschauende und nachhaltige Personalentwicklung sind kontinuierliche Anstrengungen für den Erhalt und die Weiterentwicklung des Dualen Systems notwendig. Ohne die kontinuierliche Besetzung von Ausbildungsplätzen werden Unternehmen auf Dauer nicht konkurrenzfähig sein bzw. bleiben können.
- Die Struktur und inhaltliche Ausrichtung des Schulsystems muss der sich kontinuierlich verändernden Arbeitsmarkt- und Ausbildungssituation besser angepasst werden. Die Bundesländer stehen hier in der Verantwortung, die zu hohe Zahl der Schulabgängerinnen und -abgänger ohne Abschluss und ohne ausreichende berufsqualifizierende Fertigkeiten nachhaltig und deutlich zu verringern. Ziel der Schule muss es sein, alle Jugendlichen zu Schulabschlüssen und damit zu notwendigen Qualifikationen für die Aufnahme einer Ausbildung, eines Studiums zu führen.
Dies sind nur einige der zentralen Maßnahmen, die wir fordern, um die Ausbildungssituation in Deutschland nachhaltig zu verbessern. Mehr Informationen finden sie hierzu auf den Seiten der Grünen Bundestagsfraktion zum Thema "Ausbildung" unter http://www.gruene-bundestag.de/cms/ausbildung/rubrik/9/9360.htm .
Die Zukunft der Berufsschulen erachte ich als zentral für eine gute und erfolgreiche Ausbildung, die sich auch an den späteren beruflichen Realitäten orientiert. Die Ausbildung muss insgesamt qualitativ verbessert werden. Dies wiederum hängt auch an den Berufsschulen und deren Qualität. Sie müssen stärker mit Unternehmen kooperieren und sich auf die Veränderungen einstellen, die es durch den Europäischen und Nationalen Qualifikationsrahmen geben wird.
Schließlich noch eine Bemerkung zu ihrer Frage der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern beim Thema "berufliche Bildung": Leider ist in dieser Frage der Bund nur eingeschränkt zuständig (über das Berufsbildungsgesetz). Gemeinsame Programme zur Stärkung der beruflichen Bildung in der Schule sind nicht möglich. Aber immerhin gibt es über Sonderprogramme und Strukturentscheidungen die Möglichkeit der Einflussnahme, die genutzt werden soll und kann. Ärgerlich ist jedoch hieran, dass der Bund häufig die Versäumnisse der Länder in der Schulpolitik ausgleichen muss, z. B. durch teure Arbeitsmarktmaßnahmen.
Ich hoffe ich konnte ihre Fragen zur beruflichen Bildung beantworten. Weitere Informationen zum Thema finden sie auf den oben bereits erwähnten Seiten der Grünen Bundestagsfraktion zum Thema "Ausbildung" sowie auf meiner Homepage: www.anna-luehrmann.de.
mit freundlichen Grüßen,
Anna Lührmann