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Angelika Niebler
CSU
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Frage von Jonathan M. •

Frage an Angelika Niebler von Jonathan M. bezüglich Kultur

Sehr geehrte Frau Dr. Niebler,

seit längerem verfolge ich die Debatte über den Türkei-Beitritt wieauch über einen als Bedrohung nationalstaatlicher Souveränitätenheraufbeschworenen, europäischen Bundesstaat als (vorläufigen?) Endpunkt der europäischen Integration.

In all diesen Diskussionen geht es um folgende zwei Hauptfragen, die ich Ihnen gerne stellen möchte:
Gibt es eine europäische Identität?
Gibt es Werte, die alle Europäer haben und die diese im Sinne einerWertegemeinschaft einen?

Sollte es solche geben, so gestatten Sie mir die Nachfrage:
Inwiefern grenzen sich die europäischen Werte von den islamischen odervielleicht vornehmlich türkischen Werten ab und welche Rolle darf diesen Werten in der Diskussion um einen eventuellen Beitritt beigemessen werden?

Ich bedanke mich bereits jetzt für ihre Antwort und wünsche Ihnen eineweiterhin erfolgreiche Zeit in Brüssel!

Beste Grüße

Jonathan Mayer

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Antwort von
CSU

Sehr geehrter Herr Mayer,

gerne versuche ich, Ihnen meine Vorstellungen und Erfahrungen mit der europäischen Identität näherzubringen. Bitte haben Sie aber Verständnis dafür, dass ich Ihnen eine erschöpfende Antwort leider nicht geben kann, da diese Frage schon in der Vergangenheit Generationen von Wissenschaftlern und Politikern beschäftigt hat und immer noch beschäftigt, ohne dass sich eine mehrheitsfähige Lehrmeinung herauskristallisiert hat. Einig ist man sich allein in der Auffassung, dass so etwas wie europäische Identität schwer zu definieren ist.

Wie also konstituiert sich europäische Identität? Um diese Frage zu beantworten, müsste man zunächst die geografischen und normativen Grenzen Europas benennen können und schon dort stößt man in der Geschichte auf zahlreiche unterschiedliche Vorstellungen und Definitionen von Europa, die häufig nicht aus sich selbst entstehen, sondern durch Abgrenzung zu dem "Anderen", z. B. dem vorderasiatischen Raum. Klar ist, dass wir in unserem bis vor Kurzem von einer großen Rivalität der Nationalstaaten geprägten Europa nicht auf "gemeinsame Erinnerungen" zurückblicken können, aus denen sich ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt haben könnte. Iren haben keine gemeinsame Geschichte mit Rumänen, Schweden und Finnen wenig gemeinsam mit der spanischen oder portugiesischen Historie.

Wenn es in Europa eine gemeinsame Identität gibt, dann hat sich diese meiner Überzeugung nach vor allem aus dem Wunsch heraus entwickelt, nach dem gemeinsam erfahrenen Entsetzen von zwei Weltkriegen eine stabile politische Ordnung aufzubauen, in der die europäischen Völker endlich in Frieden und Freiheit leben miteinander leben konnten. Gemeinsame Werte können sich also nur über die Gegenwart und das gegenwärtige Empfinden der Menschen, die in Europa leben, herausbilden. Dazu gehören Begriffe wie Frieden, Freiheit, Menschenwürde und die Bewahrung der Umwelt, oder anders: die Werteordnung, die im europäischen Recht und vor allem in den Vertragstexten festgeschrieben ist. Eine Umfrage aus dem Jahr 2008 des Langzeitprojekts "European Values Study" der Universität Tilburg untermauert, dass sich die große Mehrheit der in der Europäischen Union lebenden Bürger mit den Werten der Europäischen Union identifiziert und diese auch lebt.

Da Sie explizit den EU-Beitrittskandidaten Türkei ansprechen, möchte ich Ihnen kurz einige Ergebnisse der Europäischen Wertestudie vorstellen, die eine Diskrepanz zwischen den Wertvorstellungen einer Mehrheit der Bürger aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und denen der in der Türkei lebenden Menschen erkennen lässt: Während beispielsweise die Trennung zwischen Religion und Politik für die Bürgerinnen und Bürger in den jetzigen Mitgliedsländern der EU eine Selbstverständlichkeit ist, wird sie von den Menschen in der Türkei mehrheitlich abgelehnt. Trotz der generellen Zustimmung zur Demokratie als der besten Staatsform ist der Anteil der Menschen in der Türkei, die sich für eine autoritäre Führung aussprechen, außerdem deutlich höher als in den EU-Mitgliedstaaten: zwei Drittel der befragten Türken wünschten sich eine autoritäre Führung, während dies nur ein Viertel der befragten EU-Bürger bevorzugten. Auch die Frage der Gleichberechtigung wird in der Türkei anders beantwortet als in den EU-Mitgliedstaaten: In allen Ländern wurden Menschen gefragt, ob sie der Meinung seien, dass Männer eher ein Recht auf Arbeit hätten als Frauen, wenn die Arbeitsplätze knapp wären. Mehr als zwei Drittel der EU-Bürger unterstützen die Idee, dass beide Geschlechter gleichberechtigt behandelt werden sollten, während zwei Drittel der türkischen Befragten die Männer bevorzugen würden.

Zwar stehe ich Diskussionen über einen möglichen Beitritt der Türkei zur EU auf Grundlage von Werten skeptisch gegenüber, da sie stets Gefahr laufen, einen populistischen oder gar rassistischen Unterton anzunehmen. Diese Umfrageergebnisse sollten aber dennoch ernst genommen werden, da sie umso schwerer ins Gewicht fallen, weil die Türkei ein bevölkerungsreiches Land ist und aufgrund der höheren Geburtenziffern bei einem Beitritt zur EU wahrscheinlich das bevölkerungsreichste Land einer dann erweiterten EU wäre.

Ob die Türkei letztendlich Mitglied der EU wird oder nicht, ist aber meiner Meinung nach eine politisch zu treffende normative Entscheidung, in der weniger kulturelle Unterschiede eine Rolle spielen sollten, als vielmehr die Fragen nach Rechtstaatlichkeit, Pressefreiheit, Schutz von Minderheiten, usw.

Abschließend möchte ich Ihnen als weitergehende Lektüre zu diesem Themenkomplex den Artikel "Europa - aber wo liegt es?" von Werner Weidenfeld empfehlen: http://www.cap.lmu.de/download/2002/2002_ehb_weidenfeld.pdf .

Ich hoffe, dass ich Ihnen mit diesen Informationen weiterhelfen konnte.

Mit freundlichen Grüßen

Angelika Niebler

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