Frage an Albert Deß von Florian B. bezüglich Europapolitik und Europäische Union
Sehr geehrter Herr Deß,
das ordentliche Gesetzgebungsverfahren nach Art. 294 AEUV ist als primärrechtlich vorgeschriebener Regelfall in der Praxis, aufgrund der oftmals langen Dauer von der Einbringung bis zur Verabschiedung einer Rechtsvorschrift, nur schwer anwendbar.
Die abgekürzte Gesetzgebung in Form des informellen Trilogverfahrens gewinnt daher innerhalb der EU immer mehr an Bedeutung. Da die Verhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, entsteht hierbei jedoch ein Zielkonflikt zwischen einer schnellen und effektiven Gesetzgebung einerseits und einem transparenten Gesetzgebungsverfahren andererseits.
1. Wäre es überhaupt möglich und realistisch alle Vorschriften exakt nach den in der AEUV genannten Gesetzgebungsverfahren zu verabschieden?
2. Sind die Abgeordneten des Parlaments, welche an den Ausschüssen, die die Trilogverhandlungen führen, teilnehmen, gerecht – also nach Partei/Fraktion – verteilt?
3. Ändern diese Triloge etwas an den Machtverhältnissen?
4. Halten Sie dieses Verfahren mit dem primären Gemeinschaftsrecht und den demokratischen Grundsätzen für vereinbar?
5. Könnte in Zukunft solchen Verfahren auch in den einzelnen Mitgliedstaaten
größere Rollen zukommen?
6. Was könnte Ihrer Ansicht nach für mehr Transparenz in einer dennoch
effektiven Gesetzgebung getan werden?
7. 2012 kam es aufgrund von Kritik am Verfahren zu Korrekturen in der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments. Hat sich dies Ihrer Meinung nach positiv ausgewirkt?
8. Sind Sie der Meinung, dass dem Lobbyismus durch derartige Verfahren - da auf weniger Personen Einfluss genommen werden muss - eine bedeutendere Stellung in der Gesetzgebung zukommt?
Vielen Dank für Ihre Bemühungen.
Mit freundlichen Grüßen
F. B.
Sehr geehrter Herr B.,
Ihre Frage beantworte ich wie folgt:
Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren (Art. 294 AEUV) ist das wichtigste Rechtssetzungsverfahren in der Europäischen Union. Die von der Kommission vorgeschlagenen Gesetze werden vom Europäischen Parlament und vom Ministerrat gemeinsam angenommen. Der Prozess kann bis zu drei Lesungen umfassen und verläuft über folgende Schritte:
Initiative:
Der Kommissionsvorschlag für ein Gesetz (Richtlinie oder Verordnung) wird dem Parlament und dem Rat zugestellt. Die Kommission verfügt über das alleinige Initiativrecht. Das Parlament kann sie jedoch zu einer Initiative auffordern und seit dem Vertrag von Lissabon können dies auch die Bürger durch das Initiativrecht der Bürger.
Erste Lesung:
Im Parlament kommt der Text in den zuständigen Ausschuss, der darüber berät und Änderungen vorschlägt, wenn der Kommissionsentwurf nicht den Vorstellungen des Parlaments entspricht. Abschließend stimmt das Plenum über den Text ab. Die Entscheidung des EP wird dem Ministerrat übermittelt. Das Gesetz ist erlassen, wenn der Rat in seiner ersten Lesung sämtliche Änderungswünsche des Parlaments mit qualifizierter Mehrheit billigt oder wenn das Parlament keine Änderungen vorgeschlagen hat und der Rat dem Entwurf der Kommission ebenfalls zustimmt. Sind die Minister im Rat aber anderer Meinung als die Kommission oder das EP, fassen sie ihre Änderungsvorschläge im "gemeinsamen Standpunkt" der Regierungen zusammen und nennen die Gründe für jede gewünschte Änderung. Der "gemeinsame Standpunkt" wird dem Parlament zur zweiten Lesung zugestellt.
Zweite Lesung:
Das Parlament hat drei Möglichkeiten:
1. Wenn das Europäische Parlament den "gemeinsamen Standpunkt" des Rats mit einfacher Mehrheit billigt, ist das Gesetz damit erlassen.
2. Wenn das Parlament den "gemeinsamen Standpunkt" mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder ablehnt, ist das Gesetz gescheitert.
3. Das Parlament ändert den "gemeinsamen Standpunkt" mit absoluter Mehrheit erneut.
Die Kommission gibt ihre Stellungnahme zu den Änderungsvorschlägen des EP ab. Billigen die Minister mit qualifizierter Mehrheit den Gesetzentwurf in der Fassung des Parlaments, ist das Gesetz erlassen. Wenn die Kommission die Abänderungen des Parlaments abgelehnt hat, muss der Rat einstimmig entscheiden, um das Gesetz in Kraft zu setzen. Lehnt der Rat die Änderungen des Parlaments ab, muss ein Vermittlungsausschuss einberufen werden.
Vermittlungsausschuss:
Der Ausschuss besteht je zur Hälfte aus Vertretern des Rates und des Parlaments. Auf der Grundlage des vom Parlament geänderten Textes versucht er, binnen sechs Wochen einen "gemeinsamen Entwurf" zu finden. Gelingt die Einigung nicht, ist der Gesetzesvorschlag gescheitert
Dritte Lesung:
Gibt es eine Einigung im Vermittlungsausschuss, so müssen ihr Parlament und Rat in dritter Lesung zustimmen, das Parlament mit absoluter Mehrheit, der Rat mit qualifizierter Mehrheit. Das Gesetz ist gescheitert, wenn eines der beiden Organe den gemeinsamen Entwurf ablehnt.
Mit freundlichen Grüßen
Albert Deß, MdEP