Corona: Impfpatente: Wie die Pharmalobby die Bundesregierung auf Linie brachte | abgeordnetenwatch.de Direkt zum Inhalt
Corona
Impfpatente: Wie die Pharmalobby die Bundesregierung auf Linie brachte
Fast zwei Jahre lang wurde über die Patente der Corona-Impfstoffe gestritten, Regierungsmitglieder änderten in dieser Zeit ihre Position. Recherchen von abgeordnetenwatch.de zeigen nun, wie die Pharmalobby versuchte, die Große Koalition von einer Freigabe der Patente abzubringen. Dafür wurde auch der Biontech-Chef aktiv – mit Erfolg.
Auf der Bundespressekonferenz am 26. Januar 2022 sagte Robert Habeck etwas Bemerkenswertes über die Freigabe von Impfstoff-Patenten: "Nachdem ich nochmal intensiv mit den Unternehmen gesprochen habe, bin ich der Meinung, dass uns das nicht helfen würde."
Die Äußerung des neuen Wirtschaftsministers war eine Wendung um 180 Grad. Noch im Mai 2021 hatte Habeck gefordert, die Patente freizugeben, um die Produktion des weltweit benötigten Corona-Impfstoffes zu steigern. Dem Spiegel sagte er: "Deutschland und die EU sollten sich den USA anschließen und sich bei der Welthandelsorganisation für eine Ausnahmeregelung einsetzen.”
Was hatte Habeck umgestimmt?
Keine zwei Monate zuvor hatte der Grünen-Politiker ein Telefonat mit "zwei Führungskräften der obersten Leitungsebene" des Mainzer Impfstoffherstellers Biontech geführt – am 8. Dezember 2021, seinem ersten Tag im Amt. Das Wirtschaftsministerium räumte die Unterhaltung gegenüber abgeordnetenwatch.de ein, Aufzeichnungen oder Notizen gibt es angeblich nicht. Aus der Pressestelle des Ministeriums heißt es lediglich, es sei um die "Verfügbarkeit von Covid-Impfstoffen in Deutschland” gegangen. Was den Meinungswandel des Ministers konkret bewirkt hat, ließ der Sprecher unbeantwortet.
Habeck war freilich nicht der erste, der für die Argumente der Impfstoffhersteller empfänglich war. Recherchen von abgeordnetenwatch.de zeigen, dass die Pharmalobby Anfang 2021 – lange vor dem Regierungswechsel – damit begann, die Bundesregierung beim Thema Impfpatente auf ihre Linie zu bringen. Auf Antrag nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) mussten Ministerien und das Kanzleramt jetzt Unterlagen herausgeben, darunter Lobbyschreiben von Konzernen und Verbänden, Ministervorlagen und Vermerke. Die Dokumente legen nahe, dass die Pharmaindustrie erfolgreich war.
Die Kanzlerin sah im Corona-Impfstoff zunächst ein "globales öffentliches Gut"
Als Angela Merkel (CDU) zu Beginn der Corona-Pandemie im April 2020 einen künftigen Impfstoff als "globales öffentliches Gut"bezeichnete, muss die deutsche Pharmaindustrie alarmiert gewesen sein. Einige Konzerne wie Biontech forschten längst an einem Covid19-Impfstoff, der gigantische Gewinne versprach. Würden die Impfstoffhersteller ihre angemeldeten Patente in Zukunft freigeben müssen, entgingen ihnen Einnahmen in Milliardenhöhe.
Von einem "globalen öffentlichen Gut” sollte bei der Bundeskanzlerin bald keine Rede mehr sein, im Gegenteil. Auf internationaler Ebene blockierte die Regierung eine Freigabe der Corona-Patente, so wie von der Pharmalobby gewünscht.
Im Februar 2021, wenige Wochen nach Zulassung des Impfstoffes von Biontech/Pfizer, meldete sich ein Vertreter des US-Pharmakonzerns Pfizer beim damaligen Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU). In seinem Schreiben trug er dem Minister vor, dass geistiges Eigentum "ein entscheidender Bestandteil für das Entstehen von Innovationen" sei. Was folgte, war eine Lobbyoffensive der Pharmawirtschaft.
Der Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa) wandte sich im Mai 2021 an Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) und warb für den Patentschutz: "Er ist der Motor für Wachstum und Innovation"; ein gleichlautendes Schreiben erhielt die Bundeskanzlerin. Auch die Firma Merck schrieb Angela Merkel: Mit ihrer Ablehnung einer Patentfreigabe würde die Kanzlerin "eine der wichtigsten Säulen des europäischen Innovations-Ökosystems sichern" (19. Mai 2021).
"Liebe Frau Merkel, herzlichen Dank für Ihre Unterstützung", schreibt der Biontech-Chef
Die Pharmalobby hatte allen Grund zur Sorge. International gab es seit Ende 2020 Forderungennach einer Freigabe der Impfpatente. Unterstützung kam von den Präsidenten Joe Biden und Emmanuel Macron sowie von mehr als einhundert Mitgliedstaaten der Welthandelsorganisation (WTO).
abgeordnetenwatch.de
"Herzlichen Dank für Ihre Unterstützung": Mail von Biontech-Chef Uğur Şahin an Angela Merkel am 6. Mai 2021
Am 6. Mai telefonierten Angela Merkel und Biontech-Gründer Uğur Şahin laut Spiegel zum Thema Patentschutz. Noch am selben Nachmittag erhielt die Kanzlerin eine E-Mail von dem Pharma-Chef aus Mainz, die abgeordnetenwatch.de mit Hilfe des Informationsfreiheitsgesetzes erhalten hat. “Liebe Frau Merkel”, schreibt Şahin, “haben Sie herzlichen Dank für Ihre Unterstützung. Anbei der Text, den wir derzeit in unserer Kommunikation verwenden, mit den Argumenten, warum eine Freigabe von Patenten nicht sinnvoll ist.”
Als Angela Merkel wenige Wochen später im Bundestag zum Thema Impfpatente spricht, klingt es gar nicht mehr nach Impfstoffen als “globales öffentliches Gut”: “Eine politisch erwirkte Freigabe der Patente halte ich für den falschen Weg”, sagt die Kanzlerin am 24. Juni. Stattdessen führt sie Argumente der Pharmalobby an. Die künftige Entwicklung von Impfstoffen sei nur dann gewährleistet, “wenn der Schutz des geistigen Eigentums nicht außer Kraft gesetzt wird”.
Deutschlands Wirtschaft ist in Gefahr, sagt die Pharmalobby
In ihren Lobbyschreiben an die Bundesregierung entwerfen die Interessenvertreter ein düsteres Szenario: Der Wirtschaftsstandort Deutschland sei in Gefahr, wenn die Patente für Corona-Impfstoffe freigegeben würden.
Der Verband forschender Arzneimittelhersteller hatte schon im Januar 2021 in einem Brief an Wirtschaftsminister Altmaier appelliert: “Daher bitten wir Sie, sich im Sinne des Standorts Deutschland gegen die Abschaffung der geistigen Eigentumsrechte bei Covid-Impfstoffen und -Therapeutika einzusetzen.” Das Schreiben leitete Altmaier an die zuständige Justizministerin Christine Lambrecht weiter. Was die Unternehmen von ihr zu hören bekamen, dürfte sie gefreut haben: “Die von Ihnen geäußerten Bedenken [...] kann ich grundsätzlich nachvollziehen. Der angemessene Schutz geistiger Eigentumsrechte stellt auch aus meiner Sicht einen wichtigen wirtschaftlichen Anreiz für die Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen dar.”
Das sehen nicht alle so. In den Unterlagen, die abgeordnetenwatch.de erhalten hat, findet sich auch ein Brief von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen der Charité, verschiedenen Leibniz-Instituten und weiteren renommierten Einrichtungen. Darin bitten sie die Bundeskanzlerin und einige Minister, sich für die vorübergehende Aussetzung der Patente einzusetzen: “Der Schutz von geistigem Eigentum und Monopolen [...] wirkt sich negativ auf die Bemühungen aus, die Weltbevölkerung zu impfen.” Weiter heißt es in dem Schreiben aus dem September 2021: “Anders als befürchtet, wird die zeitweilige Aussetzung von Patenten nicht die Innovationskraft im Bereich der deutschen pharmazeutischen Forschung behindern.”
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hatten also eine gegenteilige Auffassung als die Industrie. Doch die Bundesregierung folgte den Argumenten der Pharmalobby.
Vor dem entscheidenden Treffen gehen massenhaft Lobbyschreiben bei der Regierung ein
Ende November 2021 sollte bei einer Konferenz der Welthandelsorganisation eigentlich die Entscheidung über die Patente fallen. Die Pharmalobby flutete die Bundesregierung im Vorfeld noch einmal mit dringlichen Bittbriefen. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) wandte sich an Lambrechts Staatssekretärin mit der “dringenden Bitte, an der bisherigen ablehnenden Position der Bundesregierung zu einer Aussetzung bzw. Beschränkung der Patente auf COVID-19-Impfstoffe festzuhalten und die entsprechenden Vorschläge anderer WTO-Mitglieder abzulehnen”. Der Verband forschender Arzneimittelhersteller und der Verband der Chemischen Industrie meldeten sich bei Merkel und Lambrecht; der Verband der deutschen Biotechnologie schrieb an Merkel, Lambrecht, Altmaier und Außenminister Heiko Maas. Und auch der Pharmakonzern Boehringer Ingelheim, der gar keinen Covid19-Impfstoff entwickelt hatte, schickte einen Brief an Wirtschaftsminister Altmaier. Das Unternehmen fürchtete, dass künftig auch andere Patente freigegeben würden.
Bis zur WTO-Entscheidung in der Patent-Frage sollte es allerdings länger dauern als angenommen. Wegen der Corona-Lage im Herbst 2021 wurde die Konferenz verschoben. Als sie schließlich im Juni 2022 in Genf stattfand, einigten sich die 164. Mitgliedstaaten auf einen Kompromiss: Bestimmte Entwicklungsländer können Zwangslizenzen einführen und Impfstoff herstellen. Das war zwar weniger, als sich die Mehrheit der nicht-westlichen Länder gewünscht hatte. Aber auch die Bundesregierung konnte sich mit ihrer Position zum Patentschutz nicht durchsetzen. Bei der WTO hatte die EU für ihre Mitgliedstaaten verhandelt und den Kompromiss mitgetragen. Mit diesem waren weder die Bundesregierung noch die Pharmaindustrie völlig zufrieden – auch wenn es hätte schlimmer kommen können.
Corona-Impfstoff gegen Computer-Chips
picture alliance/dpa | Oliver Dietze
Wirtschaftsminister Peter Altmaier und die deutsche Automobilwirtschaft hatte ein Problem: Fehlende Computer-Chips aus Taiwan. Da traf es sich gut, dass Taiwan Impfstoff benötigte.
Bei dem engen Austausch zwischen Pharmalobby und Bundesregierung ging es aber nicht allein um Impfpatente. Die Regierungsunterlagen legen nahe, dass die Impfstoffproduzenten von Biontech/Pfizer womöglich auch der Bundesregierung behilflich waren. Anfang 2021 hatten Wirtschaftsminister Altmaier und die deutsche Autoindustrie ein Problem: Es fehlte an dringend benötigten Computer-Chips aus Taiwan. Da traf es sich gut, dass Taiwan in jenen Monaten Covid19-Impfstoff benötigte.
Laut einer E-Mail von Pfizer an Altmaier war es in einem gemeinsamen Gespräch am 3. Juni 2021 um den Schutz geistigen Eigentums gegangen – aber nicht nur. Der Pfizer-Lobbyist richtete dem Wirtschaftsminister aus: “Ich habe auch das, was Sie in Bezug auf Taiwan gesagt haben, mit unserer globalen Organisation besprochen und bin im engen Austausch mit Biontech darüber. Gemeinsam versuchen wir, eine schnelle Lösung für dieses komplexe Problem zu finden.”
Tatsächlich lieferte Pfizer im September 2021 Impfdosen im Wert von 350 Millionen Dollar nach Taiwan. Der Generaldirektor der deutschen Auslandsvertretung in Taiwan sagte damals, insbesondere Altmaier habe sich für eine Vermittlung zwischen Pfizer und Taiwan eingesetzt.