Von Sven Schwabe
Zwei Meter lange Transparente am Gartenzaun verkünden in roten Buchstaben worum es geht: „Hands off! Dieses Haus ist besetzt.“ Seit dem 29. Juni 2012 bewohnen die Mitglieder einer Seniorenbegegnungsstätte in Berlin-Pankow nun schon ihr Klubheim, um die angekündigte Schließung und den Verkauf des Objektes durch den Bezirk Pankow zu verhindern. Während der grüne Stadtrat von diesem Widerstand überrascht ist, bekommen diese unkonventionellen Hausbesetzer deutschlandweit Unterstützung und Zuspruch. Und ganz nebenbei schreiben sie dabei Protestgeschichte: Als erste Senioren, die ihren eigenen Seniorentreff besetzen. Dabei geht es im ehemaligen Wohnhaus Erich Mielkes in der Stillen Straße 10 ansonsten eher ruhig zu. In einer vornehmen Villengegend gelegen, treffen sich dort wöchentlich um die 300 Seniorinnen und Senioren in 29 verschiedenen Gruppen, um Sprachen zu lernen, Bridge und Skat zu spielen oder sich mit Gymnastik fit zu halten. Fast alle von ihnen kommen aus der ehemaligen DDR und erhalten nur eine Mindestrente, sodass ihnen die Seniorenbegegnungsstätte mit günstigen Freizeitangeboten einmalige Möglichkeiten eröffnet, die andernorts nicht zu finden sind. Unbezahlbar ist für die Senioren vor allem die Kommunikation untereinander und der soziale Kontakt, sagt Margret Pollack, 67 Jahre alt, Vorstandsmitglied im Seniorenklub und seit kurzem Hausbesetzerin. „Viele von uns sind alleinstehend. Wenn sie die Gemeinschaft nicht mehr haben, werden sie krank.“
"Wir geben die Schlüssel nicht ab..."
Die politisch Verantwortlichen des Bezirks Pankow haben dagegen eine andere Prioritätensetzung. Zwar kann der stellvertretende Bürgermeister Jens Holger Kirchner das Engagement der Senioren für den Erhalt der Einrichtung durchaus nachvollziehen, sieht aber haushaltspolitisch keine Spielräume. Neben den ca. 50.000 Euro jährlich anfallenden Betriebskosten beziffert er die Aufwendungen für eine notwendige Sanierung des Gebäudes auf 1,5 Millionen Euro - „Geld, das wir einfach nicht haben.“ Darum hat der hochverschuldete Bezirk im März das Aus beschlossen und hofft, durch den Verkauf des Geländes auf Einnahmen im mittleren sechsstelligen Bereich. Auch andere Kultur- und Sozialeinrichtungen in Pankow sind durch den neuen Haushalt von radikalen Kürzungen betroffen und zum Teil in ihrem Fortbestand gefährdet. Die Bezirksabgeordneten haben die Rechnung allerdings ohne den Wirt – in diesem Fall die Seniorinnen und Senioren – gemacht. Sie sammelten Unterschriften, verschickten Protestbriefe, besuchten Ausschusssitzungen und Bezirksversammlungen und zogen – als all dies wirkungslos blieb – kurz vor Schließungstermin mit Schlafsack und Campingcouch ins Haus ein. Ein Geheimnis haben die Rentnerinnen und Rentner aus ihrem Vorhaben keineswegs gemacht, berichtet Pollack. „Wenn auch leise, haben wir seit März gesagt, dass wir besetzen werden, wenn der Bezirk seinen Entschluss nicht ändert. Aber man hat uns nicht für voll genommen!“
"...und die Löffel noch lange nicht!"
Wahrscheinlich deshalb, weil man es ihnen aufgrund ihres Alters nicht mehr zugetraut hatte. Aber die Pankower Seniorinnen und Senioren unterscheiden sich deutlich von vielen ihrer Altersgenossen. Statt sich mit Stricknadel an den heimischen Herd zurückzuziehen, pauken sie Französisch-Vokabeln oder organisieren Reisen. Und auch in die Besetzerrolle sind sie mittlerweile hineingewachsen. Sie kennen ihre Rechte, wissen, was im Fall einer Räumung zu tun ist und gestalten mittlerweile die Öffentlichkeitsarbeit offensiv mit. Dennoch glaubt niemand so recht an einen Polizeieinsatz, auch nicht Doris Syrbe, die Sprecherin des Seniorenklubs: „Die trauen sich nicht, denk ich mal, gegen uns vorzugehen, uns mit der Polizei rauszutragen. Das wäre dann der große Hammer.“ Stattdessen haben sich bereits Seniorenklubs aus anderen Orten Deutschlands gemeldet, weil auch sie den kommunalen Sparmaßnahmen zum Opfer fallen sollen. Es ist also durchaus möglich, dass die Pankower Senioren mit ihrem politischen Protest nicht alleine bleiben.
"Wir machen Politik, Alter"
Obwohl diese von Senioren initiierte Besetzung deutschlandweit für Aufsehen gesorgt hat, ist sie gerade vor dem Hintergrund der Protestwellen der letzten Jahre nicht vollkommen überraschend. So waren es beim Widerstand gegen Atomkraft oder gegen Neonazis zuletzt immer häufiger ältere Menschen, die die Fahnen schwenkten. Während bei den Demonstrationen gegen Stuttgart 21 über 60% der Teilnehmenden das 40. Lebensjahr überschritten hatten, konnte das Göttinger Institut für Demokratieforschung auf Berliner Protesten gegen Fluglärm bereits jeden 5. als Rentner identifizieren. Die Alten – so scheint es – sind zurück auf dem politischen Parkett. Dennoch kann die Pankower Besetzung nicht einfach in diese Widerstandskette eingereiht werden. Handelt es sich bei den älteren Demonstrationsteilnehmern häufig um Menschen aus höheren Bildungsschichten, die in Westdeutschland aufgewachsen sind, 1968 und die Neuen Sozialen Bewegungen der 70er und 80er Jahre oft auch als Aktivisten miterlebt und keine persönliche Diktaturerfahrung mehr haben, haben die Pankower Seniorinnen und Senioren gänzlich unterschiedliche biographische Voraussetzungen. Es handelt sich bei ihnen in erster Linie um Frauen aus der ehemaligen DDR, die über keinerlei Protesterfahrung verfügen, aber – und das könnte ein interessanter Forschungsaspekt sein – ein anderes politisches System erlebt und reflektiert haben. Gerade vor dem Hintergrund einer Politik, die unter dem Banner der „Alternativlosigkeit“ immer drastischere Sparmaßnahmen gegen soziale und kulturelle Einrichtungen ergreift, scheinen auch in Zukunft politische Proteste nicht auszubleiben. Seniorinnen und Senioren – oft als politisch konservativ, passiv und stumme Wählerbasis der CDU bezeichnet – könnten hier eine interessante Rolle spielen. Sie werden es nämlich sein, die in besonderem Maße von Haushaltssanierungsprogrammen betroffen sind und sozialmoralisch als Kostentreiber des Wohlfahrtsstaats unter Druck gesetzt werden. Inwieweit es ihnen dabei gelingt, als politischer Akteur handlungsfähig zu werden und dem neoliberalen bzw. neosozialen Regime etwas entgegenzusetzen, dürfte eine der spannenden Fragen der nächsten Jahre werden. Wie es mit den Pankower Senioren weitergeht ist indes offen. Der Kündigung ihres Telefonanschlusses durch den Bezirk konnten sie durch die Anschaffung eines Handys zuvorkommen. Und wenn Ende August die Bezirksversammlung nach der Sommerpause zusammentritt, um über das weitere Vorgehen im Fall „Stille Straße“ zu verhandeln, werden sich die renitenten Rentnerinnen und Rentner sicherlich auch was einfallen lassen. _____________________
Sven Schwabe, 26 Jahre, promoviert an der Graduiertenschule "Alter(n)skulturen" der Heinrich Heine Universität Düsseldorf zu Alteraktivierung und politischem Protest in Deutschland.