Zumutung und Rechtsbruch: CDU Wiesbaden droht abgeordnetenwatch.de mit Klage (Update)

abgeordnetenwatch.de für Wiesbaden gibt es zwar noch gar nicht, aber die Stadtverordneten der dortigen CDU verbitten sich schon einmal vorsorglich, für die Bürgerinnen und Bürger öffentlich befragbar zu werden. Sollten wir die Position der CDU-Fraktion nicht respektieren, müsse man den Vorgang einer "erfolgssicheren formalen Klärung zuführen", schreibt uns deren Justiziar.

von Martin Reyher, 30.11.2011

 

Beim Versuch, das Projekt auf Kommunen und Kreistage auszuweiten, stieß abgeordnetenwatch.de auf Widerstände: Einige Kommunalpolitiker fanden schon die Aufnahme ihres Namens als Zumutung und Rechtsbruch. Natürlich seien sie bereit, sich den Fragen von Bürgern zu stellen, persönlich, telefonisch, per Fax. Aber nicht öffentlich, im Internet, ohne Kontrolle darüber, wer welche Fragen stellt. Das spricht für ein bestürzendes Selbstverständnis von Menschen, die das Volk vertreten sollen.

Stefan Niggemeier im SPIEGEL 43/2011

Zumutung und Rechtsbruch – das ist in etwa auch die Position der CDU Wiesbaden in Bezug auf abgeordnetenwatch.de. Eine Befragung der Wiesbadener Stadtratsmitglieder gibt es zwar noch gar nicht und ein Start ist derzeit auch nicht geplant, doch die CDU-Fraktion hat uns über ihren Justiziar vorsorglich schon einmal einen Brief zukommen lassen. abgeordnetenwatch.de solle, so heißt es darin, die Position der CDU Wiesbaden „respektieren und die Aufnahme der Fraktionsmitglieder der CDU Wiesbaden weder veranlassen noch vornehmen“. Andernfalls müsse man den Vorgang einer "erfolgssicheren formalen Klärung zuführen", was nichts anderes heißt als: eine Klage in die Wege leiten.

Dass Politiker sich Bürgerfragen schon einmal prophylaktisch verbitten, haben wir bislang noch nicht erlebt. Die CDU Wiesbaden findet, dass die Weiterleitung von Bürgerfragen (an eine öffentliche Mailadresse!) eine "rechtswidrige Persönlichkeitsverletzung" darstellt. Denn die Stadtverordneten hätten uns in einem von allen unterschriebenen Brief (s. rechts) zu verstehen gegeben, dass sie die Mails ihrer Mitbürger nicht im Posteingang haben wollten. Hier tritt, quasi als neuerlicher Beleg, das „bestürzende Selbstverständnis“ einiger Kommunalpolitiker zutage, das Stefan Niggemeier in seinem SPIEGEL-Essay kürzlich beschrieb.

Wovor fürchten sich die Wiesbadener Ratsmitglieder, die sich – und das verdient Respekt und Anerkennung! - in ihrer Freizeit als Stadtverordnete für die Gemeinschaft engagieren? "Selbst bei bestem Willen, Anfragen zu beantworten, kann dies aufgrund der systemimmanenten Begrenzungen kaum in einer alle Beteiligten befriedigenden Weise geschehen," schreiben uns die CDU-Politiker. Vor einigen Tagen haben wir hier im Blog einmal nachgezählt, wie viele Bürgerfragen über abgeordnetenwatch.de ein Stadtratsmitglied im Durchschnitt eigentlich bekommt. In keiner Kommune waren es bislang mehr als zwei - pro Stadtrat und innerhalb mehrerer Monate! Auch in Wiesbaden dürfte auf die ehrenamtlichen Politiker keine Frageflut zurollen, sollte es abgeordnetenwatch.de dort irgendwann einmal geben. Die CDU-Stadtratsmitglieder könnten den ein oder zwei Fragen pro Jahr entspannt entgegensehen, doch statt dessen fahren sie juristisches Geschütz auf.

Von der angedrohten „erfolgssicheren Klärung“ lassen wir uns allerdings nicht beeindrucken. Vor einigen Tagen haben wir dem Justiziar freundlich, aber bestimmt, geantwortet:

Da wir unverändert der Ansicht sind, dass eine Weiterleitung von Bürgeranfragen - zumal über eine öffentliche und im Zusammenhang mit der Ratstätigkeit stehende eMailadresse - nicht rechtswidrig ist, sehen wir einer „formalen Klärung“ gelassen entgegen. Wir würden diese sogar ausdrücklich begrüßen.

Was bedeutet all dies für einen Start von abgeordnetenwatch.de in Wiesbaden? Rein gar nichts. Sobald ein Bürger die notwendigen Angaben zu den Stadtratsmitgliedern in einer Exceltabelle zusammenträgt und uns zuschickt, werden wir auch in der hessischen Landeshauptstadt online gehen, Drohung hin oder her. Auch in Wiesbaden werden wir einen Start natürlich nicht von der Erlaubnis einzelner Politiker abhängig machen.

Update: SPIEGEL ONLINE schreibt:

Rausgefiltert werden lediglich Beiträge, die beleidigend oder diffamierend sind - kritische Fragen nicht, "und diese sind auch ausdrücklich erwünscht", sagt Hackmack. Genau diese Form von "Kontrollverlust" - so formuliert es der Stadtverordnete aus Wiesbaden gegenüber SPIEGEL ONLINE - scheinen die CDU-Kommunalpolitiker zu fürchten.

Damit bestätigt sich die heute Morgen von uns gegenüber HR online geäußerte Vermutung:

Auch das Argument der Wiesbadener CDU, dass die Stadtverordneten ehrenamtliche Mandatsträger und keine Berufspolitiker seien, will Reyher nicht gelten lassen. "Die Sorge vor Bürgerfragen überschwemmt zu werden, ist nur vorgeschoben", sagte Reyher hr-online. Seiner Ansicht nach fürchten sich die Fraktionsmitglieder davor "die Hoheit über die eigene Kommunikation aus den Händen zu geben". Während man bei Facebook oder Twitter Fragen eher löschen oder Themen aussitzen könnte, würden sich kritische Sachfragen bei abgeordnetenwatch.de nicht so leicht "versenden."

Mehrere Zeitungen, Nachrichtenportale und Blogs berichten über den Fall. Eine Auswahl:

Die Wiesbadener Piraten weisen in einer Pressemitteilung auf einen interessanten Aspekt hin:

Allerdings scheint es selbst in der CDU besonnene Stimmen zu geben, die den Kurs der CDU-Führung für überzogen halten. Nicht jeder aus der Fraktion scheint mit dem Brief einverstanden, wie die fehlenden Unterschriften einiger CDU-Stadtverordneten zeigen.

Und weiter:

Mit der Transparenzoffensive der CDU, die im Koaltionsvertrag mit der SPD festgehalten wurde, hat das nicht mehr viel zu tun.

Update: Der Hamburger CDU-Bürgerschaftsabgeordnete Robert Heinemann twittert gerade:

 

 

 

 

 

 

 

Update: Der Wiesbadener Kurier hat gerade auf seiner Internetseite einen neuen Artikel veröffentlicht (pdf). Danach hält die CDU Wiesbaden unverändert an der Mär fest, ihre Stadtverordneten würden mit Bürgerfragen überhäuft:

Lorenz argumentiert gegen das „Gerede“ von der Transparenz, die Teil des Anspruchs ist, den abgeordnetenwatch.de erhebt. Und er beteuert, er scheue mitnichten den Kontakt mit dem Wähler. Im Gegenteil: Autoren von Leserbriefen rufe er regelmäßig an, wenn er es für geboten hält.
Der Justiziar der CDU-Fraktion, Joachim Hasemann-Trutzel, fürchtet schließlich den „Pranger-Effekt“, der dann eintritt, wenn ein Parlamentarier 27 an ihn gerichtete Fragen nicht beantwortet. So lässt die Wiesbadener CDU an ihrer Haltung keinen Zweifel. Sie vergleicht die Internet-Plattform abgeordnetenwatch.de sogar mit Telefonwerbung. „Juristisch nicht unproblematisch“, meint Bernhard Lorenz. Weshalb die Fraktion in ihrem Brief vom 6.Oktober auch den Tenor eines BGH-Urteils beigefügt an: Darin ist von Belästigung und Schutz der allgemeinen Persönlichkeitsrechte die Rede. Und von dem Recht eines Wohnungseigentümers, sich mit Aufklebern am Briefkasten gegen den Einwurf von Werbematerial zu wehren.

„Unsere Politiker sind nicht in der Lage sich gut auszudrücken“ - einige Anmerkungen: Viel ist in den vergangenen Tagen über die Klagedrohung der CDU gegen abgeordnetenwatch.de geschrieben worden (s.o.), und doch ist noch nicht alles gesagt. Auszug aus einem taz-Artikel mit der Überschrift "Die Angst der Gewählten vor den Wählern":

„Die Stadtverordneten arbeiten ehrenamtlich und haben keinen Apparat hinter sich“, sagt Hasemann-Trutzel. Er ist Rechtsanwalt und vertritt sich und seine Kollegen auch als Justiziar. Manche seien einfach ausgestattet und hätten weder Internet noch Fax. Außerdem seien viele nicht in der Lage sich gut auszudrücken, die Tragweite ihrer Formulierungen abzuschätzen und mit Empfindsamkeiten umzugehen. Das ist für ihn ein Problem, weil die Antworten auf die Fragen „auch in 10 Jahren noch online zu finden sind“. Die Kommunalpolitiker fühlen sich überfordert. „Mir haben Leute gesagt: Wenn das kommt, höre ich auf“. Ihn und die anderen CDUler stört auch das Zählsystem von Abgeordnetenwatch.de – dort kann jeder sehen, wie viele Fragen es für einen Politiker gab und wie viele Antworten er gegeben hat. Für Hasemann-Trutzel ist das „stigmatisierend“. Rechtlich argumentiert er mit dem Persönlichkeitsrecht. „Ich darf mir aussuchen, mit wem ich in Kontakt trete“. In Deutschland gelte: „Du darfst nicht jeden anquatschen“.

Man weiss gar nicht, wo man hier anfangen soll. Bei dem Politiker, der einem Bürger entgegenruft: „Du darfst nicht jeden anquatschen“? Bei dem Politiker, der hinschmeissen will, wenn Bürger ihm im Internet eine öffentliche Frage stellen? Bei dem Politiker, der nicht möchte, dass seine Aussagen in zehn Jahren noch auffindbar sind?

Etwas läuft gehörig schief, wenn Bürgerfragen als Zumutung verstanden werden. Was sagt man all jenen, die sich allmählich desillusioniert abwenden - von der Politik, den Politikern, der demokratischen Teilhabe? Die keinen Sinn mehr darin sehen, bei der nächsten Wahl ihre Stimme abzugeben?

Die öffentliche Bloßstellung der eigenen Parteifreunde macht den ohnehin entstandenen Gesamteindruck noch viel schlimmer. Bürger sind lästig, lautet die Botschaft, und die politischen Mandatsträger unfähig. Wenn Stadtverordnete einer deutschen Großstadt, obendrein einer Landeshauptstadt, die „Tragweite ihrer Formulierungen nicht abschätzen“ können - können sie dann eigentlich die Tragweite ihrer politischen Entscheidungen überblicken? Man ist fassungslos.

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