Um es gleich vorweg zu sagen: Ohne Phoenix, den Ereigniskanal, haben Sie eigentlich gar keine Chance. Sie wollen wissen, welcher Bundestagsabgeordneter wie abgestimmt hat? Dann sollten Sie ganz nah an den Bildschirm ranrücken, möglichst eine Lupe bereithalten - und mit etwas Glück erkennen Sie, welcher Volksvertreter gerade die Hand hebt, wenn der Bundestag wie z.B. gestern über die vollständige Rücknahme der Rente mit 67 befindet.
In keinem Protokoll der Welt werden Sie zu dieser Abstimmung auch nur das Abstimmungsverhalten eines einzigen Abgeordneten finden, Sie werden nicht einmal ermitteln können, ob jemand überhaupt anwesend war (es sei denn, Sie haben ihn bei Phoenix ausfindig gemacht...). Das liegt an der parlamentarischen Praxis, den überwiegenden Teil der Abstimmungen im Deutschen Bundestag „nicht namentlich“, d.h. nur durch bloßes Handheben oder Aufstehen, durchzuführen. Und über die Anwesenheit der Abgeordneten wird öffentlich nicht Buch geführt.
Der Deutsche Bundestag hat in diesen Tagen deutlich gemacht, dass ihm nicht daran gelegen ist, diesen Zustand zu ändern. Es gebe dafür „keinen Bedarf“.
Diese Behauptung allerdings ist äußerst gewagt, ja, man könnte sie auch dreist nennen. Die Vorgeschichte hat ihren Ausgangspunkt Anfang Februar in der Mail einer Bürgerin, die - ganz im Sinne von mehr Transparenz - eine ziemlich gute Idee hat:
Ich habe einen Vorschlag an Abgeordnetenwatch: mit den heutigen technischen Mitteln wäre es ein leichtes, dass bei jeder Abstimmung die Abgeordneten transparent Ihr Votum z. B. über einen Schalter oder Ähnliches abgeben - von anderen Ländern weiss ich, dass das so gehandhabt wird. Können Sie sich nicht als Abgeordnetenwatch z. B. über eine Petition für ein solches Abstimmungsverfahren einsetzen? Nur wenn es Transparenz gibt, kann es auch Verantwortung geben. Und als Wähler wollen wir doch alle, dass unsere Abgeordneten sich auch verantwortlich für Abstimmungsverhalten zeigen.
Da abgeordnetenwatch.de in erster Linie ein Dialog- und Transparenzportal ist und keine Kampagnenorganisation, die sich aktiv für politische Anliegen einsetzt, seien sie auch noch so unterstützenswert, reichen wir die Idee via Facebook an unsere Sympathisanten weiter. Kurz darauf meldet sich Dieter Klemke von der Organisation diebürgerlobby.de und erklärt sich bereit, eine Petition an den Deutschen Bundestag zu richten (mehr bei diebuergerlobby.de). Inhalt:
Der Deutsche Bundestag möge beschließen, dass die bestehenden Möglichkeiten für elektronische Abstimmungen (e-votings) im Parlament geprüft werden und dann ein vor Manipulationen geschütztes Verfahren für zukünftige Abstimmungen eingeführt wird. Ein solches System bringt Transparenz, Effizienz und Schnelligkeit. Als Beispiel sei die Schweiz genannt. Hier praktizieren die Kantone Genf, Neuenbürg und Zürich bereits seit einigen Jahren erfolgreich das e-voting ohne dass die Demokratie gefährdet. Mit der Einführung eines vor Manipulationen geschützten e-voting-Systems würde die Transparenz bei Abstimmungen im Parlament nachhaltig verbessert werden. Wähler hätten eine wesentlich schnellere und einfachere Möglichkeit das Abstimmungsverhalten IHRES Abgeordneten festzustellen. Auch die Teilnahme des einzelnen Abgeordneten an Abstimmungen wäre klarer nachvollziehbar. Eine Information, die für den einzelnen Wähler von größter Bedeutung sein kann.
Aus Bürgersicht wäre es reizvoll, zu jeder Abstimmung nachschauen zu können, wer wann wie abgestimmt hat. Das persönliche Votum eines Abgeordneten entfaltet eine starke Verbindlichkeit, die durch bloßes, nicht protokolliertes Handheben bislang nicht gegeben ist. Schon bald zeigt sich aber, dass es gar nicht so einfach ist, als Bürger bei seinen Volksvertretern Gehör zu finden. Denn Klemkes Petition wird vom Büro des zuständigen Bundestagsausschusses erst einmal dahingehend geprüft, ob sie überhaupt zugelassen wird. Mehrere Wochen hört man zunächst nichts, bevor sich Regierungsdirektorin Misselwitz aus dem Fachbereich Parlamentsrecht des Deutschen Bundestags bei Dieter Klemke meldet und darlegt, warum dessen Eingabe nicht zugelassen wird (vollständig hier als pdf nachzulesen):
- Es besteht im Deutschen Bundestag “grundsätzlich kein Bedarf für eine exakte Zählung der Stimmen“. - Diese Begründung ist geradezu absurd, denn der Petent hatte ja genau deswegen eine Petition eingereicht, weil er einen Bedarf sieht und hat dies auch entsprechend begründet.
- Es bestehen Zweifel, „ob eine solche elektronische Abstimmungsanlage tatsächlich die Gewähr einer absoluten technischen Zuverlässigkeit bietet“. - Angesichts dieser Begründung bleibt einem vor lauter Ungläubigkeit der Mund offenstehen. Soviel Skepsis hatte es in der Vergangenheit nämlich nicht gegeben. Allein zur Bundestagswahl 2005 wurden 1.850 Wahlapparate eingesetzt. Zwei Jahre später klebte das von Wolfgang Schäuble geführte Innenministerium den wegen ihrer Manipulierbarkeit höchst umstrittenen Wahlcomputern sogar eine ministerielle TÜV-Plakette auf - für ihre Zuverlässigkeit. Denn diese zeichneten sich durch „ein hohes Maß an Zuverlässigkeit und Akzeptanz“ aus, heißt es in einer Antwort (pdf) auf eine Linken-Anfrage. "Nennenswerte technische Probleme" bzw. Anwenderprobleme der Wähler oder der Wahlvorstände seien bisher nicht bekannt geworden, geringfügige Störungen, "z. B. kurzzeitige Stromausfälle", hätten "problemlos behoben" werden können. Man mag zu technischen Wahlhilfen stehen wie man will, aber: Wenn ein hochkomplexer Wahlcomputer bei einer Bundestagswahl, also bei der Ausübung eines der vornehmsten Bürgerrechte, aus Sicht der Politik technisch zuverlässig arbeiten kann - warum dann nicht auch eine simple Abstimmungsanlage im Deutschen Bundestag mit drei Knöpfchen?!
- Die bisherigen Abstimmungsmodalitäten sind in der „Öffentlichkeit nachvollziehbar“, weswegen die zuständigen Gremien des Deutschen Bundestags sich in der Vergangenheit wiederholt für eine Beibehaltung der bekannten parlamentarischen Abläufe entschieden haben. - Das heißt nichts anderes als: Wo sich in den letzten Jahrzehnten nun schon einmal alle daran gewöhnt haben, bei Abstimmungen die Hand zu heben - warum sollen sie künftig auf Knöpfchen drücken müssen?
- Der Einsatz von elektronischen Abstimmungsgeräten in anderen Parlamenten, etwa in der Schweiz, lässt sich nicht auf Deutschland übertragen, da es „teilweise erhebliche Unterschiede in der allgemeinen parlamentarischen Arbeitsweise“ gibt. - Auch hier wundert man sich als Beobachter: Wird in der Schweiz oder auch im EU-Parlament anders abgestimmt als mit „Ja“, „Nein“, „Enthaltung“?
„Einwendungen“ gegen die Ablehnung von Dieter Klemkes Petition sind möglich, aber sie werden vergeblich sein. Wie immer, wenn sich Politik und Verwaltung auf etwas festgelegt haben. Etwa, dass es für mehr Transparenz „keinen Bedarf“ gibt...
Nachtrag von 15:30 Uhr: Unter der schönen Überschrift ""Von der Untertanenbitte zum politischen Bürgerrecht" - Einführung in das Petitionsrecht" zeichnet der Bundestag auf seiner Website die wechselvolle Geschichte des Petitionsrechts nach. Auszüge:
Bürgern der Römischen Kaiserzeit von Caesar bis Justitian war es gestattet, sich mit ihrem Begehren, damals supplicium genannt (lat. = demütiges Bitten), an den Kaiser zu wenden.
Dass der Herrscher den Armen und Schwachen Recht und Gnade zu gewähren habe, gehört zu den tradierten Leitbildern jener Zeit (Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, 15. bis 18. Jahrhundert) .
Vor einer möglichen Überweisung der Supplike an den absoluten Herrscher wurde während der Sitzungsperioden ein Ausschuss ins Leben gerufen, der für die Bearbeitung der Eingaben verantwortlich war (1789).
Zum ersten Mal schuf das von Friedrich dem Großen auf den Weg gebrachte Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 in § 156 Abs. II Ziffer 20 die rechtliche Verpflichtung zu einer sorgfältigen Behandlung einer Petition, insbesondere bei einer gut begründeten Petition von allgemeinem Interesse: „Dagegen steht es einem Jeden frey, Einwendungen und Bedenklichkeiten gegen Gesetze und andere Anordnungen im Staate sowie überhaupt seine Bemerkungen und Vorschläge über Mängel und Verbesserungen sowohl dem Oberhaupt des Staates, als den Vorgesetzten der Departments anzuzeigen; und letztere sind der gleichen Anzeigen mit erforderlicher Aufmerksamkeit zu prüfen verpflichtet.“
Gemessen am Petitionswesen des Jahres 2011 erscheint selbst das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 modern...
Nachtrag von 31.5.2011: Interessant ist das Argument laut Wikipedia (allerdings ohne Quellenangabe), warum der Bundestag auf eine Abstimmungsanlage verzichtet:
Nach dem Selbstverständnis der Abgeordneten sollen Abstimmungen bewusste Handlungen sein, die nicht durch das bloße Drücken von Tasten ersetzt werden dürfen.
Nachtrag von 1.6.2011: Während in Deutschland erst das Volk transparente Abstimmungen von den Abgeordneten einfordern muss, kommt die gleiche Initiative in der Schweiz aus der Mitte des Parlaments. Der Nationalratsabgeordnete der SVP, Lukas Reimann, hat im März eine parlamentarische Initiative zu öffentlichen Abstimmungen im Ständerat (entspricht etwa dem deutschen Bundesrat) gestartet. In dem Antrag heißt es:
Gestützt auf Artikel 160 Absatz 1 der Bundesverfassung und Artikel 107 des Parlamentsgesetzes reiche ich folgende parlamentarische Initiative ein: Artikel 4 des Bundesgesetzes über die Bundesversammlung ist mit folgendem Wortlaut zu ergänzen: Abstimmungen in den Räten sind so zu gestalten, dass die Öffentlichkeit Kenntnis erhält, wie das einzelne Mitglied gestimmt hat. Begründung: Während im Nationalrat jedes Abstimmungsergebnis detailliert im Internet publiziert wird, herrscht im Ständerat komplette Intransparenz. Es wird nicht einmal erfasst, wer wie gestimmt hat. Diese Intransparenz ist mit einer modernen Demokratie nicht vereinbar. Der Bürger hat ein Recht zu wissen, wie seine Vertreter im Rat abstimmen. Namensaufrufe auf Antrag sind im Ständerat zwar möglich. In den vergangenen Jahren wurde von dieser Möglichkeit aber kaum Gebrauch gemacht, da dies zu einer Verzögerung des Ablaufes führen würde. Im Hinblick auf die technischen Erneuerungsarbeiten im Ständeratssaal im Herbst 2011 muss nun der gleichzeitige Einbau einer elektronischen Abstimmungsanlage im Ständerat in Betracht gezogen werden. Die Veröffentlichung der Abstimmungsergebnisse liegt auch im Interesse des Ständerates: Die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen in den Rat würden gestärkt. Die meisten Auswertungen (z. B. durch Politologen, die Parlamentsdienste oder Medien) über das Abstimmungsverhalten und die Wege der Entscheidfindung werden lediglich im Nationalrat gemacht, da eine seriöse Auswertung im Ständerat aufgrund der heutigen Intransparenz gar nicht möglich ist. Im Nationalrat wird nicht weniger unabhängig oder gar schlechter entschieden seit der Erhebung des Stimmverhaltens der einzelnen Ratsmitglieder. Im Gegenteil: Die Offenlegung der einzelnen Abstimmungsergebnisse hat viele Vorteile. Sie sorgt dafür, dass der Politiker volksnaher und in der Regel im Sinne seiner Wähler entscheidet, da diese ja sehen können, wie er abgestimmt hat. Macht er trotzdem keine bürgernahe Politik - und hier liegt ein weiterer grosser Vorteil der Transparenz -, kann ihn das Volk aufgrund seines Verhaltens abwählen und einer neuen Kraft die Chance geben. Dies führt zu einer ehrlicheren und glaubwürdigeren Politik. Intransparenz hingegen schadet: Das Misstrauen im Volk wächst. Im Dunkeln lassen sich Entscheide, welche gegen die Interessen des Landes verstossen, einfacher durchsetzen.
Das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten im Schweizer Nationalrat ist für jeden Interessierten auf der Parlamentshomepage öffentlich einzusehen. Außerdem stellt das Parlament die Abstimmungsdaten als XML-Stream zur Verfügung, so dass jeder Bürger die Informationen problemlos weiterverarbeiten kann. Vom Deutschen Bundestag gibt es lediglich PDFs, die aber zur Weiterverarbeitung - etwa zur Dokumentation auf abgeordnetenwatch.de - nicht weiterhelfen. Bei jeder Abstimmung müssen wir die Angaben manuell eingeben.
Nachtrag von 8.6.2011: Am 31. Mai 2011 haben wir den Parlamentarischen Geschäftsführern der Bundestagsfraktionen per Mail folgende Fragen gestellt:
- Wie steht Ihre Fraktion zum Thema Einführung von automatischen Abstimmungsanlagen im Deutschen Bundestag?
- Inwiefern können Sie das Bedürfnis von Bürgern nachvollziehen zu erfahren, wie ein Abgeordneter abgestimmt hat?
- Sofern Sie grundsätzlich eine bessere Nachvollziehbarkeit des individuellen Abstimmungsverhaltens bei bislang nicht namentlichen Abstimmungen befürworten: Können Sie sich - die Mehrheitsverhältnisse einmal außen vor gelassen - vorstellen, eine parlamentarische Initiative zu starten?
Als erstes geantwortet hat heute Jörg van Essen, FDP. Er schreibt:
Die FDP-Bundestagsfraktion sieht aus den zutreffenden Gründen der Petitionsentscheidung keinen Anlass zur Einführung einer automatischen Abstimmungsanlage. Die von Ihnen zitierten Bürger können ohne Probleme dann, wenn der sie interessierende Abgeordnete keine Erklärung zur Abstimmung abgegeben hat, davon ausgehen, dass er der von der Fraktion erklärten Auffassung folgt.
van Essens Antwort verdeutlicht noch einmal das Kernproblem der bisherigen Praxis: "Bürger können ohne Probleme ... davon ausgehen, dass...". Die Intention der Petition war, Klarheit und vor allem Nachvollziehbarkeit beim Abstimmungsverhalten unserer Volksvertreter zu schaffen. Gut möglich zum Beispiel, dass ein Abgeordneter bei einer Abstimmung nicht den Arm hebt, weil er den Antrag/die Mehrheitsmeinung seiner Fraktion nicht teilt. Auf diese Weise stimmt er formal nicht zu, doch niemand erfährt es. Würde das Abstimmungsverhalten automatisch erfasst werden, erhielte die Öffentlichkeit in jedem Fall die Information, ob jemand mit Ja oder Nein gestimmt, sich enthalten hat oder nicht anwesend war - und könnte dann ggfs. beim Abgeordneten gezielt nachfragen. --------------------------
Lesen Sie auch:
- Duma vs. Bundestag 83,9%:19,4% (27.5.2010) (Falls nun jemand anhand dieses Beispiels argumentieren sollte, dass das Knöpfchendrücken manipulationsanfällig sei: Dank Phoenix wären die Übeltäter spielend leicht zu überführen...)
Noch mehr interessante Geschichten gibt es in unserem Newsletter. Jetzt hier abonnieren - natürlich kostenlos und jederzeit wieder abbestellbar.