Man darf sich schon wundern über einige Politiker. Das Ansehen ihres Berufsstandes ist seit Jahren im Keller, nur Talkmaster und Banker sind noch unbeliebter (mehr... ). Eigentlich müsste sich ein Politiker jetzt hinstellen und den Menschen zurufen: Ich möchte euer Vertrauen zurückgewinnen! Doch statt dessen dies:
Nach der
baden-württembergischen CDU vor gut einem Jahr hat am Montag dieser Woche
auch die Hessen-CDU einen Boykott verkündet. Man werde auf abgeordnetenwatch.de keine Bürgerfragen beantworten, denn als "demokratisch gewählte Abgeordnete stellen wir an uns den Anspruch, auch ohne einen Vermittler für die Bürger ansprechbar zu sein." Das ist seit Jahren übrigens - wortgleich - die Standardbegründung mehrerer Bundestagsabgeordneter, z.B. von
Kristina Schröder,
Gitta Connemann,
Hartwig Fischer oder
Andreas Mattfeld - die hessische CDU hat sie sich nun kurzerhand ausgeliehen. Das Argument ist natürlich absurd, zumal im Zusammenhang mit dem Wort „demokratisch“, denn übersetzt lautet es: „Als vom Volk gewählte Abgeordnete stellen wir an uns den Anspruch, selbst darüber zu entscheiden, auf welchem Wege uns das Volk anzusprechen hat.“ Noch deutlicher lässt sich eigentlich nicht ausdrücken, welches Rollenverständnis in einem demokratischen System jemand hat.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass der Boykott von Holger Bellino öffentlich gemacht wurde, dem Fraktionsgeschäftsführer der Christdemokraten im Wiesbadener Landtag. Denn Bellino ist schon aus beruflichen Gründen auf Diskretion und möglichst wenig Öffentlichkeit bedacht, denn er ist
neben seiner Tätigkeit als Abgeordneter auch freier Unternehmens- und Marketingberater. Das war er auch die meiste Zeit seines Berufslebens, wie seiner
Homepage zu entnehmen ist:
1988 - 2005: Senior Consultant/Management Supervisor in zwei Unternehmensberatungen im Bereich Marketing und Vertrieb für international agierende Kunden (in der Regel Marktführer) aus dem Bereich Automobil, Telekommunikation und Konsumgüter.
In den Jahren 1984/85 arbeitete Bellino in der Marketingabteilung eines großen Zahncremeherstellers in Brüssel, man könnte auch sagen: er war dort als Lobbyist tätig. Noch immer berät Fraktionsgeschäftsführer Bellino also Unternehmen, und es ist anzunehmen, dass es auch diesmal keine kleinen sind. Das ist aus mindestens zwei Gründen problematisch: Ein führender Landespolitiker mit allerlei politischem Insiderwissen lässt sich von Unternehmen für seine Ratschläge bezahlen. Die Unternehmen wiederum erhalten über jemanden wie Bellino einen privilegierten Zugang zu politischen Entscheidungsträgern. Und nun also plötzlich ein öffentliches Frageportal, durch das Transparenz geschaffen werden soll? Eigentlich freuen sich im Wiesbadener Landtag alle, dass es abgeordnetenwatch.de seit einigen Wochen auch für Hessen gibt: Die FDP („eine neue und unkomplizierte Möglichkeit des direkten Kontakts“) ebenso wie SPD („das politische Geschehen wird dadurch transparenter“), Grüne („wir hoffen, besonders junge Menschen zu erreichen“) und Linke ("eine gute und praktische Sache"). Nur Bellinos CDU möchte nicht mitmachen bei Transparenz und Bürgernähe. Angeblich auch deshalb, weil die Moderationskriterien „nicht offen kommuniziert“ würden. Das allerdings klingt nicht nur nach einer Ausrede, es stimmt nicht mal. Welche Fragen wir nach welchen Kriterien freischalten und welche nicht, steht in unserem Moderations-Codex und ist hier auch für jeden nachlesbar und wird hier noch einmal ausführlich erklärt. Dies müssten die CDU-Abgeordneten eigentlich wissen, denn sie kennen das Procedere schon von der Landtagswahl 2009, und damals hinderte es sie beim Werben um Wähler noch nicht am Antworten:
... um nur einige zu nennen. Insgesamt beantworteten die hessischen CDU-Kandidaten 75 Prozent aller an sie gestellten Bürgerfragen. In den nächsten Jahren stehen in Hessen erst mal keine Wahlen vor der Tür, umso leichter lässt sich deshalb von der Hessen-CDU die Botschaft unters Volk bringen: "Bürgeranfragen werden von uns auf direktem Wege beantwortet." Für Bürger hat dies allerdings einen gravierenden Nachteil: Sie können nicht erkennen, ob eine Frage überhaupt beantwortet wird (es sei denn man ist selbst der Fragesteller). Und sie erfahren schon gar nicht, was genau ein Politiker antwortet. Ein Abgeordneter kann sich natürlich öffentlichen Bürgerfragen verweigern. Ob das 2014 an der Wahlurne gut ankommt, ist eine Frage. Eine andere ist, ob die Bürger so wieder Vertrauen in Politiker gewinnen.
Nachtrag von 13:10 Uhr: Eine sehr treffende Analogie formuliert Stefan in den Kommentaren auf unserer Facebookseite:
Das ist ungefähr so - als würde mein Chef mich zur rede stellen und ich würde Ihm die Aussage verweigern. Die natürliche Folge wäre dann wohl die Kündigung.
Nachtrag vom 15.5.2011: Ein Bürger hat offensichtlich diesen Blogartikel zum Anlass genommen, Holger Bellino eine Frage via abgeordnetenwatch.de zu stellen:
Ich möchte gerne von Ihnen wissen, wie unabhängig Sie Unternehmensberater und Lobbyist in Brüssel arbeiten. Ich möchte, dass ein gewählter Volksvertreter das Volk und die Menschen vertritt. Ich möchte nicht, dass ein gewählter Volksvertreter vorrangig die Interesse der Lobbyisten und Verbände oder gar seine eigenen Interesse zuerst vertritt. Wie unabhängig sind Sie und können Sie mit guten Gewissen die Stimme des Volkes vertreten?
Boykott hin oder her, Bellino beantwortet die - an einer Stelle nicht ganz klar formulierte - Frage trotzdem::
Da liegt wohl ein Irrtum vor: Ich bin Landtagsabgeordneter in Hessen und nicht Mitglied des Europa-Parlamentes in Brüssel. Im Übrigen vertrete ich keine Lobbyisten, bin einzig und allein (aber mit Leib` und Seele) Abegeordneter.
Holger Bellino geht offenbar davon aus, dass Lobbyisten zwangsläufig im Europaparlament sitzen.
Tweet von @derweisefuchs vom 18.5.2011:
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