Die EU sei ein elitäres Projekt, von „oben herab“, die U.S.S Enterprise Brüssel gegen das Raumschiff Berlin. So oder ähnlich ist es häufig zu lesen. In Zeitungen, in Wahlprogrammen und so ziemlich jeder Literatur zu Euroskeptizismus. Das schlimme daran ist: Es stimmt weitestgehend. Aber eben auch nur weitestgehend.
Dass die EU als Projekt der Eliten startete, ist verständlich und gut. Es ist schwer vorstellbar, dass die Bürgerinnen und Bürger Europas nach zwei Weltkriegen bereit gewesen wären enger zusammenzurücken. Die politische Elite ging voran und erfand das Prinzip der „passiven Zustimmung“. Die geringe Legitimierung seitens der Bevölkerung wurde durch ein Versprechen entschädigt, welches sie hielten: Frieden.
Gerade die „passive Zustimmung“ zu der Europäischen Union befindet sich nun im Wandel und das zu Recht. Zu lange hat sich die politische Elite auf der Abstinenz militärischer Konflikte ausgeruht und ist noch immer zögerlich, wenn es darum geht der Bevölkerung mehr Mitsprache einzuräumen. Zu erkennen ist dies an dem im Vergleich zu nationalen Volksvertretungen noch immer unterprivilegierten EU-Parlament, das seit seiner ersten Direktwahl 1979 hart kämpfen musste bis es im Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 endlich nur in Ausnahmefällen von der Gesetzgebung ausgeschlossen wird. Gesetze initiieren darf es aber weiterhin nicht.
Zu erkennen ist es auch an der niedrigen Wahlbeteiligung. Viele betrachten die Europawahl nach wie vor als Wahl 2. Klasse, dabei werden viele wichtige Entscheidungen, wie demnächst das umstrittene Freihandelskommen TTIP, unter Beteiligung des EU-Parlaments getroffen.
Wer sich dann doch zur Wahl aufrafft, dem präsentieren die Parteien geschlossene Bundeslisten oder, im Fall von CDU/CSU, geschlossene Landeslisten. Einen Kandidierenden wählen, den man für vertrauenswürdig, kompetent, transparent und bürgernah hält? Keine Chance mit dem jetzigen Wahlrecht. Statt dessen haben Bürgerinnen und Bürger zu wählen, was ihnen von den Parteien auf den Listen vorgesetzt wird.
So sind die Wahlen zum Europäischen Parlament ein Paradebeispiel für jenes Phänomen, das 1992 zum „Wort des Jahres“ gekürt wurde: Politikverdrossenheit. Das wäre schon Grund genug, etwas zu ändern. Dazu kommt aber noch ein wenig beachtetes, aber nicht zu vernachlässigendes Problem: die Politikverdrossenheit unter Politikerinnen und Politikern.
Mit vielen Kandidierenden haben wir in den vergangenen Wochen gesprochen. Politiker, die auf Listenplatz 12 oder 19 kandidieren, obwohl ihre Parteien am Ende vielleicht 3 oder 4 Sitze im Europäischen Parlament haben werden.
Zunächst wundern sich diese Kandidierenden, weshalb ihnen Bürgerinnen und Bürger überhaupt via abgeordnetenwatch.de Fragen stellen können. Wenn man sie darauf anspricht, dass sie ja zur Wahl kandidieren, lautet die Antwort: Ja, kandidieren schon, aber doch auf einem aussichtslosen Listenplatz.
Mitunter kommt es vor, dass die Verwunderung umschlägt in Unverständnis. Dass es sich bei ihrer Kandidatur um Informationen von öffentlichem Interesse handelt – schließlich stellen sie sich zur Wahl als Volksvertreter – mögen einige von ihnen gar nicht teilen. Anderen Kandidierenden ist es wiederum vollkommen gleichgültig, was über sie im Netz verbreitet wird, solange sie sich nicht damit auseinandersetzen müssen.
Derlei Reaktionen zeigen, dass sich Kandidierende nicht mit ihrer Rolle identifizieren.
Politik wird von Menschen gemacht. Doch wählen dürfen wir Parteien, die die Hoheit darüber beanspruchen, wen sie ins Parlament schicken wollen, um uns zu vertreten. Warum eigentlich? Dass Wählerinnen und Wähler selbst darüber entscheiden, wer sie im Parlament repräsentieren soll, ist in Bayern, Hamburg und Bremen auf Landesebene Realität - warum also nicht auch in Europa?
Dabei wäre es ein leichtes, Lust auf die Europawahl zu machen, und zwar für Wähler und Kandidierende gleichermaßen: durch ein personalisiertes Wahlrecht. Wir Bürger könnten unsere Vertreter dann selbst auswählen. Und aussichtslose Kandidierende - die gäbe es dann nicht mehr.
Text: Keno Franke, Simon Kimmel, Laura Herzig / Foto: Myrabella / Wikimedia Commons / CC-BY-SA-3.0