Einen ungewohnt offenen Einblick in fraktionsinterne Abläufe hat jetzt der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler in einer Antwort auf abgeordnetenwatch.de gegeben.
"Jeder Abgeordnete", so Gauweiler, "muss nach seiner Fraktionsordnung einen Tag vor der Abstimmung schriftlich anzeigen, wenn er bei der Abstimmung von der Fraktionslinie abweichen will." Zugespitzt könnte man sagen: In Deutschland muss sogar das freie Gewissen bei der Fraktionsführung angemeldet werden.
Gauweiler weiß wovon er spricht. Der CSU-Abgeordnete hat in dieser Wahlperiode mindestens sieben Mal gegen die eigene Fraktion gestimmt, beim Rettungspaket für Griechenland zog er sogar gegen den Antrag der schwarz-gelben Bundesregierung vors Verfassungsgericht. Zuletzt machte er Schlagzeilen mit einer Anfrage an die Regierung zum Hintergrund des Rücktritts von Horst Köhler. Gauweiler will Auskunft darüber, ob "die Bundesregierung den Bundespräsidenten bedrängt oder gedrängt” (hat), das Euro-Rettungspaket schnellstmöglich zu unterschreiben. Gauweiler ist also alles andere als ein Abnicker.
abgeordnetenwatch.de hat heute die Parlamentarischen Geschäftsführer der fünf Bundestagsfraktionen um eine Stellungnahme zu folgenden Fragen gebeten:
- Muss ein Abgeordneter laut Ihrer Fraktionsordnung vor einer Abstimmung schriftlich anzeigen, wenn er bei der Abstimmung von der Fraktionslinie abweichen will?
- Wenn ja: Warum ist dies so?
- Wird oder wurde in Ihrer Fraktion vor wichtigen Abstimmungen und bei knappen Mehrheiten (während Ihrer Regierungsbeteiligung) Abweichlern direkt oder indirekt mit Sanktionen gedroht (z.B. Nichtberücksichtigung bei Listenaufstellung)?
Die Antworten von Peter Altmaier (CDU/CSU), Thomas Oppermann (SPD), Jörg van Essen (FDP), Dagmar Enkelmann (Die Linke) und Volker Beck (Grüne) werden wir hier im Blog veröffentlichen.
Nachtrag vom 18.06.2010, 10:55 Uhr: Leser Sven weist in den Kommentaren auf eine aktuelle Petition zum Verbot von Probeabstimmungen und Fraktionszwang hin: https://epetitionen.bundestag.de/petition=12307
Nachtrag vom 18.06.2010, 11:00 Uhr: Die erste Antwort auf unsere Anfrage kommt vom Parlamentarischen Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Jörg van Essen. Er schreibt:
Eine Regelung in der Geschäftsordnung der FDP-Bundestagsfraktion, nach der ein Abgeordneter schriftlich anzeigen muss, wenn er bei einer Abstimmung von der Fraktionslinie abweichen will, gibt es nicht. Allerdings bitten wir darum, ein abweichendes Stimmverhalten bei namentlichen Abstimmungen der Fraktionsvorsitzenden oder dem 1. Parlamentarischen Geschäftsführer mitzuteilen, damit eingeschätzt werden kann, ob die notwendige Mehrheit für die beschlossene Fraktionsmeinung im Plenum auch erreicht werden kann. Ein Drohen mit Sanktionen (Konsequenzen bei der Listenaufstellung) hat es in meiner nunmehr 16-jährigen Tätigkeit als 1. Parlamentarischer Geschäftsführer nicht gegeben.
Nachtrag vom 21.06.2010, 10:10 Uhr: Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Linken, Dagmar Enkelmann, beantwortet unsere Anfrage wiefolgt:
In der geltenden Geschäftsordnung der Fraktion DIE LINKE existiert keine Vorschrift, dass ein Abgeordneter vorher schriftlich oder auf andere Weise anzuzeigen hätte, wenn sie oder er anders abstimmen will, als dies die Abstimmungsempfehlung der Fraktion vorschlägt. Auch bei wichtigen Abstimmungen oder knappen Mehrheiten gibt es, wie bei jeder anderen Abstimmung, in der Fraktion DIE LINKE keine Sanktionen, auch keine Androhung solcher.
Nachtrag vom 30.06.2010, 10:30 Uhr: Nicht geantwortet haben bislang die Parlamentarischen Geschäftsführer von CDU/CSU, SPD und Grüne. Auf telefonische Nachfrage wurde uns mitgeteilt, dass dies mit der Organisation der Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten sowie mit der Urlaubszeit zusammenhänge. Man wolle die Anfrage aber beantworten.
Nachtrag vom 21.07.2010: Vier Wochen gewartet, und immer noch keine Antwort von Peter Altmaier, Thomas Oppermann und Volker Beck zum Umgang mit Abweichlern in der eigenen Fraktion. Nach einer telefonischen sowie einer schriftlichen Bitte um Rückmeldung liegt der Schluss nahe: Den Parlamentarischen Geschäftsführern von CDU/CSU, SPD und Grünen ist das Thema eher unangenehm.
Nachtrag vom 09.08.2010: Heute erreichte uns ein ausführlicher Brief des Ersten Parlamentarischen Geschäftsführers der SPD-Bundestagsfraktion, Thomas Oppermann (im folgenden ungekürzt):
Es gibt in der Geschäftsordnung der SPD-Bundestagsfraktion keine Regelung zum Stimmverhalten. Es gibt jedoch einen einstimmig zu Beginn der Legislatur verabschiedeten Beschluss über das Selbstverständnis der Fraktion. Darin ist festgehalten, dass es dem Selbstverständnis der Fraktion entspricht, in der Fraktion getroffene Entscheidungen geschlossen im Bundestag zu vertreten. Ausdrücklich ist festgehalten, dass die „Legitimität von abweichenden Stimmverhalten in Gewissensfragen davon unberührt ist“. Es wird jedoch erwartet, dass Mitglieder der Fraktion ein solches abweichendes Stimmverhalten der Fraktion vorher mitteilen. Sanktionen sind nicht vorgesehen. Insbesondere kann die Fraktion eine Nichtberücksichtigung bei der Listenaufstellung gar nicht androhen, weil die Listenaufstellung in der Autonomie der Landesverbände liegt. Hintergrund dieser Regelung sind folgende Überlegungen: Jeder Abgeordnete ist nur seinem Gewissen verpflichtet. Ein Fraktionszwang, also der Zwang in einer bestimmten Art und Weise abzustimmen, ist daher in der SPD-Bundestagsfraktion zu Recht ausgeschlossen. Richtigerweise kann und muss es aber eine Fraktionsdisziplin geben, d.h. der freiwillige Entschluss der Abgeordneten einen mehrheitlich gefassten Beschluss der Fraktion im Bundestag zu unterstützen. Jede Fraktion muss sich, um Beschlüsse im Bundestag durchzusetzen, auf ihre Abgeordneten verlassen können. Nur wenn die Abgeordneten abstimmen, kann die Fraktion im Bundestag etwas erreichen. Umgekehrt kann ein einzelner Abgeordneter im Bundestag in den meisten Sachfragen nur dann etwas erreichen, wenn seine Fraktion ihn bei den Abstimmungen unterstützt. Außerdem kandidiert der einzelne Abgeordnete in unserem parlamentarischen System in der Regel ja gerade nicht als Einzelkandidat sondern im Namen einer Partei. Damit müssen Beschlüsse der Partei und der Fraktion auch ein Maßstab für das Handeln der Abgeordneten im Bundestag sein. Davon unberührt bleibt – wie dargestellt – ein abweichendes Stimmverhalten in Gewissensfragen.