Bei Journalisten, die ihn mit kritischen Fragen und laufender Kamera behelligen, hat der Bundestagsabgeordnete Christian Freiherr von Stetten eine wirkungsvolle Abwehrstrategie: Er greift zum Telefon, wählt, und läuft dann - scheinbar ins Telefonat vertieft - dem Reporter einfach davon. Manchmal läuft er auch erst davon, um dann ganz demonstrativ zu telefonieren. So wie im Mai 2007, als ihn ein Reporter des ARD-Politmagazins Panorama in den Gängen des Bundestags abpasst.
"Warum beantworten Sie die Anfragen auf abgeordnetenwatch.de nicht," kann der Journalist dem Freiherrn noch hinterher rufen (ab Min 4:13)...
... da ist dieser auch schon entschwunden - zum Telefon:
Kürzlich nahm von Stetten wieder einmal Reißaus: Als ihn ein SPIEGEL TV-Team mit laufender Kamera vor dem Reichstagsgebäude abfängt, greift er zum Mobiltelefon...
... und macht sich aus dem Staub.
Diesmal ging es allerdings nicht um unbeantwortete Bürgerfragen, sondern um geschäftliche Beziehungen von Stettens zu einem Milieu, "zu dem ein Bundestagsabgeordneter besser keinen Kontakt haben sollte" (SPIEGEL TV). Die Geschichte, die das Magazin recherchiert hat, klingt wie aus dem Drehbuch zu einem schlechten Unterwelt-Krimi und ist schnell erzählt: Für eine Getränkelieferung soll Christian von Stetten laut SPIEGEL TV im Sommer 2009 37.000 Euro an einen polizeibekannten Geschäftsmann gezahlt haben, der erstaunlicherweise aber nicht im Getränkegroßhandel tätig ist, sondern in der Immobilienbranche. Der Berliner Geschäftsmann wird von Ermittlern einem berüchtigten Familienclan zugerechnet, zu dem auch von Stettens Praktikant persönliche Kontakte unterhalten soll - der Skandalrapper Bushido. Anstatt für Aufklärung zu sorgen, läuft Christian von Stetten davon.
Update 18. April 2013: Nach einem Bericht des Magazins STERN soll Bushido dem Anführer des Berliner Unterwelt-Clans im Dezember 2010 eine Generalvollmacht erteilt haben - und damit den Zugriff auf sein Geld, Immobilien und Firmen. Laut Oberstaatsanwaltschaft agieren "die männlichen Mitglieder dieser Großfamilie im Milieu der organisierten Kriminalität. Mafiöse Strukturen sind hier eindeutig vorhanden und gerichtlich festgestellt worden." Der STERN schreibt in seiner aktuellen Ausgabe, die Schnittmenge zwischen dem Bundestagsabgeordneten Christian von Stetten und Bushido sei ein Geschäftsmann aus Berlin - der vermeintliche Getränkelieferant. Der STERN weiter: "Nun haben die Jungs aus dem Flüchtlingscamp Wavel Zugang zum Freiherrn von Stetten...".
Auf abgeordnetenwatch.de gibt es mehrere Bürgerfragen an Christian von Stetten zu Bushidos Schnupperpraktikum und dem angeblichen Getränkedeal mit dem Neuköllner Immobilienfachmann. Eine Antwort - man hätte es ahnen können - erhalten die Fragesteller nicht. Über sein Büroteam lässt von Stetten ausrichten, er wolle mit den Bürgerinnen und Bürgern "direkt, transparent und ohne Umwege über Dritte – wie beispielsweise kommerzielle Internetseitenbetreiber - kommunizieren". Deswegen antwortet er, ganz transparent, nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit. So stellt von Stetten sicher, dass sich keine "links- oder rechtsextremen Aktivisten des politischen Gegners" als "interessierte Bürger" tarnen.
Abenteuerliche Ausreden haben auch andere Politiker parat. Der Bundestagsabgeordnete Philipp Mißfelder etwa drückt sich vor Antworten mit der Begründung, die Fragen auf abgeordnetenwatch.de seien "mitunter sehr pauschal". Dabei sind Fragen von Bürgern wie die folgende an den 1979 geborenen Mißfelder eigentlich sehr konkret: "Haben Sie eine Vorstellung davon, wie es sich auf die Lebensqualität eines Menschen auswirkt, wenn ein oder beide natürlichen Hüftgelenke ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen?" Der Vorsitzende der Jungen Union hatte 2009 mit der Einlassung von sich reden gemacht, 85-Jährige sollten "keine künstlichen Hüftgelenke auf Kosten der Solidargemeinschaft" mehr bekommen.
Eine andere Bürger-Abwehrstrategie verfolgt der Bundestagsabgeordnete Dieter Jasper, der 2009 sein Bundestagsdirektmandat mit einem falschen Doktortitel gewann: Er ignoriert öffentliche Anfragen komplett. Wie Jasper fehlte auch schon dem Kurzzeit-Doktor Karl-Theordor zu Guttenberg während seiner Zeit im Bundestag die Größe, sich kritischen Bürgerfragen zu seiner copy and paste-Dissertation öffentlich zu stellen.
Die Faustformel auf abgeordnetenwatch.de lautet: Je größer der Fehltritt, desto eiserner das Schweigen. Als der Bundestagsabgeordnete und Staatssekretär im Arbeitsministerium Ralf Brauksiepe von einer Fragestellerin der Lüge überführt wurde, zog er daraus nicht etwa die Konsequenz, seinen Fehler einzugestehen und sich öffentlich zu entschuldigen. Statt dessen beantwortete er fortan keine Bürgerfragen mehr.
Anders als im Prä-Internetzeitalter, als Bürger und Politiker sich noch Briefe hin und her schickten, ist die fehlende Souveränität mancher Volksvertreter im Umgang mit ihren Fehltritten inzwischen für alle sichtbar. Ob sich ein Volksvertreter bei kräftigem Gegenwind feige in die Büsche schlägt, dürfte für den ein oder anderen Bürger ein nicht ganz unerhebliches Kriterium für seine Wahlentscheidung sein. Keine Antwort ist auch eine Antwort.
Ein paar Jahre ist es her, da geriet Forschungsministerin Annette Schavan wegen eines 26.500 Euro teuren Hubschrauberflugs von Stuttgart nach Zürich in die Kritik. Wer Schavan bis dahin auf abgeordnetenwatch.de eine Frage gestellt hatte, wurde mit einem standardisierten Antwortschreiben abgewimmelt: “Gern möchte ich Ihnen diese Frage persönlich beantworten und bitte Sie, mir hierfür Ihre Kontaktdaten zu übermitteln.”
Doch wenige Monate nach dem kostspieligen VIP-Flug geschah etwas Unerwartetes: Schavan beantwortete plötzlich ihre aller erste Frage - und zwar öffentlich. Bis heute hat sie nie wieder die Kontaktdaten eines Bürgers angefordert.