Im Jahr 2011 begann der CSU-Abgeordnete Max Straubinger damit, gegen die Verhaltensregeln des Deutschen Bundestages zu verstoßen. Anfangs machte er seine Nebeneinkünfte mit nur einigen Monaten Verspätung transparent, irgendwann ließ er sogar Jahre verstreichen, bis er den Verdienst als Generalvertreter der Allianz-Versicherung, als Landwirt oder als Berater eines Sparkassenverbandes gegenüber dem Bundestag meldete. Neun Jahre lief das so, ohne dass der Bundestag einschritt. Erst im April 2020 stellte das Bundestagspräsidium formal mehr als ein Dutzend Verstöße Straubingers gegen die Verhaltensregeln fest, was einer öffentlichen Rüge gleichkam. Weitere Konsequenzen hatte das nicht.
Die Frage ist: Was nützen Transparenzpflichten, gegen die ein Abgeordneter wieder und wieder verstoßen kann – auch weil diejenigen wegsehen, die für die Einhaltung und Sanktionierung eigentlich zuständig wären?
Zuständig ist, so steht es in den Verhaltensregeln, Wolfgang Schäuble, der Präsident des Deutschen Bundestages. Doch seit fast drei Jahren wehrt sich Schäubles Verwaltung dagegen, abgeordnetenwatch.de Auskunft zu seiner Prüftätigkeit zu geben. Nun will der Parlamentspräsident vor Gericht erreichen, dass er die Unterlagen weiterhin unter Verschluss halten kann.
Bundestag handelte laut Urteil "rechtswidrig"
Alles begann damit, dass abgeordnetenwatch.de im Juni 2018 Dokumente darüber anforderte, wie häufig Schäuble und seine Vorgänger Verstöße durch Abgeordnete überprüft und geahndet hatten. Schäubles Beamt:innen wiesen nicht nur diesen Auskunftsantrag ab, sondern auch den anschließenden Widerspruch. Im Oktober 2018 verklagte abgeordnetenwatch.de den Bundestag deshalb wegen eines Verstoßes gegen das Informationsfreiheitsgesetz (IFG) vor dem Verwaltungsgericht Berlin. Nachdem sich das Gericht am 11. Februar dieses Jahres mit der Klage befasst hatte, liegt nun die schriftliche Urteilsbegründung vor: Nach Überzeugung des Gerichts handelte die Bundestagsverwaltung mit ihrer Auskunftsverweigerung gegenüber abgeordnetenwatch.de "rechtswidrig" und muss entsprechende Unterlagen herausgeben (2 K 184.18).
In ihrem Urteil erinnern die Berliner Richter:innen daran, warum Veröffentlichungspflichten für Abgeordnete unentbehrlich sind, so wie es das Bundesverfassungsgericht bereits 2007 festgestellt hatte: "Mit der Transparenzregelung sollen berufliche und sonstige Verpflichtungen des Abgeordneten neben dem Mandat und daraus zu erzielende Einkünfte den Wählern sichtbar gemacht werden. Sie sollen sich mit Hilfe von Informationen über mögliche Interessenverpflechtungen und wirtschaftliche Abhängigkeiten, aber auch über das Fehlen dahingehender Hinweise ein besseres Urteil über die Wahrnehmung des Mandats durch den Abgeordneten auch im Hinblick auf dessen Unabhängigkeit bilden können."
Spürbare Konsequenzen haben die Regelverstöße meist nicht
Wie aber können sich Bürger:innen ein Bild von möglichen Interessenkonflikten machen, wenn sie nicht sichergehen können, dass Abgeordnete ihre Nebentätigkeiten und Einkünfte auch korrekt auf der Bundestagsseite angegeben haben? Immer wieder deckten abgeordnetenwatch.de und andere in der Vergangenheit Fälle auf, in denen Parlamentarier:innen Tätigkeiten oder Einkünfte neben dem Mandat nicht transparent gemacht hatten.
Spürbare Konsequenzen hatten Abgeordnete meist nicht zu befürchten. Seit einer Verschärfung der Verhaltensregeln im Jahr 2005 wurden lediglich zehn Verstöße durch den Bundestagspräsidenten öffentlich gemacht (dies betraf insgesamt neun Abgeordnete, siehe Liste unter dem Artikel). Ein Ordnungsgeld, die schärfste Sanktion, wurde erst in einem Fall verhängt: Die kürzlich verstorbene CDU-Bundestagsabgeordnete Karin Strenz hatte Einkünfte aus einer dubiosen Lobbytätigkeit für Aserbaidschan lange Zeit vor der Öffentlichkeit verheimlicht, was im Oktober 2017 durch Recherchen von abgeordnetenwatch.de publik geworden war.
Wiederholte Verstöße, weil es keine abschreckenden Sanktionen gibt?
Was der Bundestag nicht mitteilen will
Die Bundestagsverwaltung verweigert gegenüber abgeordnetenwatch.de u.a. die folgenden Auskünfte:
- Wie oft hat der Bundestagspräsident Verstöße gegen die Verhaltensregeln durch Abgeordnete geprüft?
- In wie vielen Fällen hat der Parlamentspräsident dem Bundestagspräsidium und den Fraktionsvorsitzenden die Ergebnisse seiner Prüfungen mitgeteilt?
- Wie häufig wurden Abgeordnete wegen eines Verstoßes gegen die Verhaltensregeln intern ermahnt?
Der Bundestag vertritt den Standpunkt, er sei nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) nicht verpflichtet, entsprechende Auskünfte zu erteilen. Das Berliner Verwaltungsgericht sah dies anders und verpflichtete den Bundestag zur Herausgabe der Unterlagen.
In den allermeisten Fällen aber dürften Abgeordnete mit einer internen Ermahnung davon gekommen sein, weil Bundestagspräsident Schäuble oder seine Vorgänger den Verstoß als „minder schwer“ bzw. „leichte Fahrlässigkeit“ einstuften. Wie viele Abgeordnete dies betrifft, darum dreht sich der Rechtsstreit zwischen abgeordnetenwatch.de und der Bundestagsverwaltung. Im Kern geht es um die Frage, ob Abgeordnete auch deshalb immer wieder gegen die Verhaltensregeln verstoßen, weil ein interner Tadel keine abschrecken Wirkung hat. Welches Ausmaß die vom Bundestagspräsidenten ausgesprochenen Ermahnungen haben, damit muss sich nun das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg befassen. Schäubles Verwaltung hat am 30. März 2021 Berufung gegen das Urteil aus 1. Instanz eingelegt (Ergänzung Mai 2021: Die Bundestagsverwaltung hat die Berufung inzwischen zurückgezogen. Damit ist das Urteil rechtskräftig).
Noch einmal zurück zu Max Straubinger, dem Abgeordneten, der unter den Augen der Bundestagsverwaltung jahrelang gegen die Verhaltensregeln verstoßen konnte. Straubinger erzählte der Süddeutschen Zeitung vor einiger Zeit, dass Schäubles Beamt:innen sich lange nicht dafür interessiert hätten, "wenn man die Einnahmen nicht rechtzeitig gemeldet hat." Dies sei erst Ende 2018 moniert worden.
Ende 2018 war die Zeit, als abgeordnetenwatch.de Klage gegen den Bundestag eingereicht hatte. Fast könnte man meinen, erst dieses Interesse an ihrer Arbeit habe die Bundestagsverwaltung bei Straubinger genauer hinschauen lassen.