Es ist die Sorge vor der Bürgerfrage, die in diesen Tagen nicht wenige Kommunalpolitiker umtreibt. Sie sind keine Profipolitiker, sondern Lehrer oder Sparkassenangestellte. Doch nun,
da es in immer mehr Kommunen abgeordnetenwatch.de gibt, droht im Ehrenamt auf einmal die Bürgerfrage. Wir sind in einer Stadt noch gar nicht online, da kommen auch schon die ersten Klagen: Fragen von Bürgern über das Internet könne man einem ehrenamtlichen Stadtrat nicht auch noch zumuten! Man sei doch schon bei Facebook und Twitter, und jetzt auch noch abgeordnetenwatch.de! Man beantworte jeden Bürgerbrief, und nun plötzlich die Mehrarbeit wegen des Internets! Gerade gestern berichtete die Frankfurter Rundschau über einen Antrag der Piratenpartei im Main-Kinzig-Kreis zur Einführung von abgeordnetenwatch.de für den dortigen Kreistag. Nach Stand der Dinge werden die Piraten damit scheitern. „Bedenken“,
so die FR (pdf), „regten sich in der SPD. Der Vorsitzende des Arbeitskreises Kommunikation, Andreas Bär, merkte an, dass aufgrund der ehrenamtlichen Tätigkeit der Arbeitsaufwand zur Beantwortung der Fragen für die Kreistagsabgeordneten kaum mit der Tätigkeit von Vollzeit-Abgeordneten verglichen werden könne.“ Unfreiwillig komisch gerät der Artikel wenig später, als der CDU-Vertreter sein Argument vortragen darf. Er moniert nämlich das genaue Gegenteil - nicht zu viele Fragen, sondern zu wenig.
Der Landtagsabgeordnete Hugo Klein (CDU) lehnt die Kontaktaufnahme über abgeordnetenwatch.de grundsätzlich ab. Im Landkreis Darmstadt-Dieburg als Vorreiter für Hessen sind über mehrere Wochen bisher erst zwei Fragen auf der Plattform eingegangen.
In dieselbe Richtung zielte vor einiger Zeit auch der CDU-Fraktionsgeschäftsführer in Bonn, Georg Fenninger, in seiner Antwort auf eine Bürgerfrage:
Mir wurde von Abgeordnetenwatch auch mitgeteilt, dass hierüber n u r höchstens 5 Anfragen im Monat zu erwarten seien. Im Vergleich zu unseren anderen Kommunikationssträngen ist das so wenig, dass man dies auch für überflüssig erachten könnte.
Zu viele Fragen oder zu wenig - was denn nun? Der Fairness halber muss man sagen, dass die „zu- wenig-Fragen“-Fraktion klar in der Minderheit ist, denn beinahe täglich erreichen uns Mails von Kommunalpolitikern, die sich schon vor dem Start von abgeordnetenwatch.de in ihrer Stadt wegen der bevorstehenden Frageflut überfordert fühlen. Dann machen wir einmal den Faktencheck:
- In Leipzig können die Ratsmitglieder seit Juni befragt werden, und 65x haben Bürger diese Möglichkeit genutzt. Mit anderen Worten: Jedes der 72 Mitglieder im Leipziger Stadtrat wurde in den vergangenen Monaten durchschnittlich 1x befragt, aber auch nur dann, wenn man großzügig aufrundet.
- In Mainz haben 61 Stadtratsmitglieder seit August 83 Fragen erhalten, also im Schnitt 1,4 Fragen pro Politiker - in vier Monaten.
- In Bonn können die Bürger seit August die 80 Stadtratsmitglieder befragen, seitdem wurden 42 Fragen gestellt, also etwa eine halbe pro Stadtrat - in vier Monaten!
- abgeordnetenwatch.de für das Kommunalparlament in Aachen ist seit gut einem Monat online, und den 76 Stadtratsmitgliedern wurden in dieser kurzen Zeit immerhin 43 Fragen gestellt. Verglichen mit Bonn wurden die Kommunalpolitiker in der Kaiserstadt von den Bürgern tatsächlich stark in Beschlag genommen.
Und so ließe sich die Liste fortsetzen. Ist abgeordnetenwatch.de in den bislang 20 Kommunen und Landkreisen deswegen ein Misserfolg? Ganz und gar nicht! Nicht nur, weil hunderte Menschen eine Anlaufstelle für ihre Anliegen gefunden, sich aktiv eingebracht und den kommunalpolitischen Entscheidungsträgern Anregungen mit auf den Weg gegeben haben. Allein die Möglichkeit, im anstehenden Winter die Stadträte vor Ort auf den unzureichenden Winterdienst hinweisen zu können oder im Fall der Fälle von einem wegen Mauschelei in die Kritik geratenen Kommunalpolitiker eine Stellungnahme einzufordern, ist schon ein Wert für sich. Das Traurige ist, dass einige Stadtratsmitglieder sich auch von Fakten nicht beeindrucken lassen. Unverdrossen machen sie die Bürger dafür verantwortlich, dass diese sie mit angeblich massenhaften Anfragen auch noch in ihrer ohnehin knapp bemessenen Freizeit in Beschlag nehmen. In Wirklichkeit entpuppen sich die gegensätzlichen Argumente „zu viele Fragen“ / „zu wenige Fragen“ als hilfloser Versuch, sich Bürgerfragen grundsätzlich zu entziehen. Die entwaffnende Frage an diese Stadträte wäre: Wie viele Fragen hätten'S denn gern? Doch inzwischen kommt die Initiative zum Start von abgeordnetenwatch.de in zahlreichen Kommunen aus der Politik selbst. Auch hier sind es ehrenamtliche Kommunalpolitiker, doch Sorge vor Bürgeranfragen haben sie deswegen nicht.
Es tut sich also etwas. Mit ihrem Engagement zum Start von abgeordnetenwatch.de machen die Kommunalpolitiker deutlich, dass ihnen am öffentlichen Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern gelegen ist. Letztens schrieb uns ein Stadtrat aus Bruchsal:
Für Bruchsal darf ich behaupten, dass wir Stadträte (damit meine ich tatsächlich alle) gute Arbeit machen. Oft haben wir aber das Problem, das den Bürgern auch zu vermitteln. Wenn ihre Site dazu einen Beitrag leisten kann, wäre das eine große Hilfe. Gutes Gelingen!
Nachtrag: Wer glaubt, das Argument „auf abgeordnetenwatch.de gibt es zu wenig Fragen“ sei die einfallsreichste Ausrede um auch künftig keine Bürgerfragen zu beantworten, der irrt. Unübertroffen dürfte die folgende Begründung eines Stadtrats aus Halle an der Saale sein:
Solange sie den Namen von abgeordnetenwatch.de nicht entsprechend abändern, kann ich leider nicht am Projekt teilnehmen, weil es eine Verzerrung der Wahrheit und eine Täuschung der Bevölkerung wäre, weil es suggerieren würde, dass ich Rechte eines Abgeordneten hätte, was ausdrücklich falsch ist. Ich schlage ihnen vor, dass sie abgeordnetenwatch.de in gewählte-beobachten.de umändern, dann könnte ich mein Einverständnis erklären.
Update 17.11.2011: Dem Schüler Vincent Thenhart ist abgeordnetenwatch.de für seine Heimatstadt Neustadt an der Weinstraße ein großes Anliegen. Deswegen hat er kürzlich die im Stadtrat vertretenen Parteien angeschrieben. Über deren Rückmeldungen ist er entsetzt. In seinem Blog schrieb Vincent am 15. November:
Mit vielen Reaktionen bzw. eine Unterstützung für das Projekt habe ich nicht gerechnet, aber mit dieser Flaute habe auch ich nicht gerechnet. Von den vorhanden Fraktionen (CDU, SPD, GRÜNE, FDP, FWG und ein einzelner Linker) kamen genau 3 Rückmeldungen: die FDP teilte mit, dass sie nicht teilnehmen möchte; die Grünen „würden sich auch für meine Daten interessieren“ und die FWG wollte sich intern beraten und hat sich danach nicht mehr gemeldet.
Heute gibt's ein Update in dem Blogartikel:
Auch SPD, CDU und Grüne haben nun geantwortet. Alle samt mit sehr besonderen Schmankerl. So befürchtet die CDU, dass die Fragen vorher von Abgeordnetenwatch wohlmöglich gefiltert oder manipuliert werden. Die SPD meint, dass Abgeordnetenwatch lediglich etwas für hauptberufliche Politiker sei und für ehrenamtliche gänzlich ungeeignet. Eine besondere Begründung liefern die Grünen, sie sagen es seien genügend Informationen auf der Website der Stadt und da „gerade Ihnen als Vertreter der Piratenpartei der Datenschutz am Herzen liegen sollte“ sind weitergehende Informationen unangebracht.