Schwingen mit der Zensurkeule oder: Vom Umgang mit Kritik und Beleidigungen in Bürgerfragen

Wird eine Bürgerfrage nicht auf abgeordnetenwatch.de veröffentlicht, ist der Zensurvorwurf ein üblicher Reflex. Doch tatsächlich bekommen die Politiker alles zu lesen, was Bürger auf diesem Portal posten, auch wenn es nicht freigeschaltet wurde. Nach welchen Kriterien wird eigentlich von wem entschieden, welche Fragen veröffentlicht werden und welche nicht? Ein Einblick in unsere Moderationspraxis.

von Martin Reyher, 30.03.2011

"Was sind Sie doch für ein armseliger Kotzbrocken!" So jedenfalls stellt sich Herr K. aus Hannover einen Dialog mit Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin vor. Was Herr K. sonst noch alles über das Frageformular auf abgeordnetenwatch.de eingegeben hat, werden Sie auf Trittins Profilseite allerdings vergeblich suchen. Wir haben es nicht freigeschaltet.

Zensur! Auf Empörung dieser Art ist eigentlich Verlass, wenn wir den Eintrag eines Bürgers nicht veröffentlichen. Und je weiter die Grenzen des guten Geschmacks in einer Frage überschritten werden, desto heftiger wird meist mit der Zensurkeule geschwungen. Das ist natürlich absurd. Anders als in totalitären Regimen werden von uns eben keine missliebigen Inhalte unterdrückt; wer anderes behauptet, möge sich einmal durch die vielen kritischen, mitunter auch polemischen Fragen klicken, die wir in der Vergangenheit freigeschaltet haben. Und wer glaubt, abgeordnetenwatch.de verhindere den Austausch zwischen Bürgern und Abgeordneten, weil wir eine Frage nicht veröffentlichen, liegt ebenso falsch. Wer sich über das Frageformular auf abgeordnetenwatch.de an einen Politiker wendet kann sicher sein, dass sein Beitrag diesen auch erreicht. Egal ob wüste Beschimpfung oder launige Spaßanfrage - selbst wenn ein Beitrag nicht veröffentlicht wird, leiten wir ihn an den Politiker weiter.

Doch wer entscheidet eigentlich darüber, welche Fragen in den Profilen unserer Volksvertreter erscheinen und welche nicht? Und nach welchen Kriterien?

Zunächst: Objektive Kriterien sind schwer zu definieren. Dass "Kotzbrocken" eine unzulässige Beleidigung darstellt, darüber dürfte weitgehend Einigkeit herrschen. Doch wie sieht es mit „Giftzwerg“ aus oder mit „Schaumschläger“? Ist „Wann werden Sie zurücktreten?“ eine Frage, die auf einen Erkenntnisgewinn abzielt oder eine mit Fragezeichen versehene Kommentierung? Handelt es sich um eine Frage zum Privatleben, wenn jemand von einem Abgeordneten wissen will: „Sind Sie privat oder gesetzlich versichert?“

Man sollte sich einmal fragen, warum bei Gericht die eine Instanz so entscheidet und die andere so. Oder warum ein Lehrer die Klausur eines Schülers so bewertet und ein Kollege vollkommen anders. Dahinter steckt, in der Regel zumindest, keine böse Absicht. Es liegen schlichtweg unterschiedliche Bewertungen eines Sachverhalts vor, bei dem es oft kein richtig und kein falsch gibt.

Ähnlich ist es in unserer Moderation. Geprüft werden die Fragen und Antworten von einem Team aus etwa einem Dutzend Moderatorinnen und Moderatoren, die allesamt ein mehrmonatiges Praktikum in unserem Hamburger Büro absolviert haben. Sie standen kürzlich vor diesem konkreten Fall:

Am 9. März 2011 stellte ein Bürger der CDU-Spitzenkandidatin in Rheinland-Pfalz, Julia Klöckner, mehrere konkrete Fragen zum Thema Nichtraucherschutz und Tabaklobby. In ihrer kurzen, allgemein gehaltenen Antwort verweist Klöckner darauf, dass ihre Tür allen Interessengruppen offen ständen. Wie es Ministerpräsident Kurt Beck mit dem Besuch von Lobbyisten halte, so Klöckner abschließend, möge der Fragesteller bitte persönlich bei ihm nachfragen. Der Bürger empfand die Antwort als unzureichend und stellte eine erneute Nachfrage, die er mit den Worten einleitete: "Haben Sie eine Leseschwäche?" Man kann dies beleidigend finden. Wenn man aber in Plenarprotokollen einmal nachliest, was sich unsere Politiker bei Zwischenrufen im Hohen Haus an den Kopf werfen, kann man einen solchen Kommentar auch für eher harmlos halten, zumal der Fragesteller im Folgenden sein Anliegen weitgehend sachlich formuliert, indem er seine - bis dato unbeantworteten - Fragen noch einmal wiederholt.

Wie entscheiden? Nicht freischalten wegen Beleidigung - oder veröffentlichen? Nach einer kontroversen Diskussion entschieden sich die Moderatoren am Ende für Freischaltung, weil das Frageinteresse des Bürgers in diesem Fall gewichtiger eingestuft wurde als die Schutzwürdigkeit der Kandidatin vor einem rauen Umgangston. Wäre die Moderationsentscheidung umgekehrt ausgefallen, hätte Frau Klöckner die Mail ebenfalls erhalten - sie wäre nur nicht öffentlich in ihrem Profil erschienen. Um zumindest ein Grundgerüst zu haben, anhand dessen sich ein Moderator orientieren kann, haben wir einen Moderations-Codex, durch den ein sachlicher Austausch auf abgeordnetenwatch.de ermöglicht werden soll. Darin ist u.a. festgeschrieben, welche Inhalte nicht veröffentlicht werden:

  • Beiträge, die Gewaltherrschaft, Rassismus, Sexismus sowie politische und religiöse Verfolgung vertreten oder deren Opfer missachten und verhöhnen
  • Beiträge mit Beleidigungen, Beschimpfungen und menschenverachtenden Formulierungen
  • Fragen zum Privatleben
  • Fragen, die unter eine berufliche Schweigepflicht fallen
  • Beiträge, die keiner Frage oder Aufforderung zur Stellungnahme entsprechen, sondern nur bloße Meinungsäußerung sind
  • Massen-Mails
  • unangemessen viele Fragen pro Fragesteller/in oder Abgeordneten
  • mehrere Nachfragen, in der Regel mehr als eine
  • Fragen von Abgeordnetenmitarbeiterinnen und -mitarbeitern aus Partei- und Fraktionsgeschäftsstellen sowie selbst gestellte Fragen
  • Fragen mit falschem Namen und/oder falscher eMail-Anschrift

Dass ein Bürger den Punkt „Beleidigung“ bei seiner eigenen Anfrage im Zweifel etwas anders auslegt als jemand, der einen unvoreingenommenen Blick auf die Sache hat, ist durchaus verständlich. Und dass ein Moderator auch schon mal falsch liegen kann mit seiner Bewertung, ist ebenso menschlich. Deswegen gibt es in unserem Moderationsprozess auch so etwas wie einen doppelten Boden: Sollte ein Fragesteller mit einer Moderationsentscheidung nicht einverstanden sein, empfiehlt sich eine Mail an moderation@abgeordnetenwatch.de. Eine Kollegin hier im Büro, die selbst nicht aktiv moderiert, schaut sich den Vorgang noch einmal an und gibt dem Fragesteller eine Rückmeldung zu seinem Einspruch. Sollte es dann noch immer unterschiedliche Meinungen bzgl. der Moderationsentscheidung geben, kann sich der Fragesteller gerne an unser Kuratorium wenden. Dessen Mitglieder sind Persönlichkeiten aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen. Zwei Journalistinnen gehören dem Gremium ebenso an wie ein ehemaliger Bundesverfassungsrichter, ein Filmregisseur oder ein Politik-Professor. Die Kuratoriumsmitglieder prüfen den Fall erneut, tauschen untereinander (per Mail) Argumente aus und kommen so in den allermeisten Fällen zu einer einhelligen Meinung, die auch der Entscheidung unseres Moderators widersprechen kann. (Der hier beschriebene Vorgang gilt im Übrigen auch für Abgeordnete, die mit einer Moderationsentscheidung nicht einverstanden sind, vor allem also dann, wenn es um die Freischaltung von grenzwertigen Bürgerfragen geht).

Übrigens finden immer wieder auch Fragen den Weg an die Öffentlichkeit, die es ursprünglich gar nicht sollten. Manche Abgeordneten wollen Bürgerfragen auch dann öffentlich beantworten, wenn diese gegen unseren Moderations-Codex verstoßen und von uns nicht freigeschaltet wurden. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Mails, die einen kommentierenden Charakter haben und keine Frage beabsichtigten. Eine kurze Nachricht des Abgeordneten an uns genügt - und wir schalten sowohl Frage als auch Antwort für die Allgemeinheit frei.

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