Landtagsgutachten zu abgeordnetenwatch.de: Abgeordnete können Bürgerfragen nicht verhindern

von Martin Reyher, 25.11.2010

Können Abgeordnete unbequeme Bürgerfragen auf abgeordnetenwatch.de juristisch verhindern? Der Gutachterdienst des nordrhein-westfälischen Landtags hat sich jetzt mit dieser und anderen Fragen beschäftigt. In einem Gutachten über abgeordnetenwatch.de (pdf) werden drei sog. "Problemstellungen" erörtert und rechtlich bewertet: 1. Kann ein Abgeordneter die Erstellung seines Profils auf abgeordnetenwatch.de verhindern bzw. dessen Löschung veranlassen? 2. Welche "Zulässigkeit und Grenzen" gibt es bei der Veröffentlichung von "kritischen Meinungsäußerungen im Rahmen einer Bürgeranfrage"? 3. Kann ein Abgeordneter "das Sperren von Fragen der Nutzer an ihn und damit zugleich auch die Veröffentlichung der Frage-Antwort-Statistik unterbinden"? Die gute Nachricht vorweg: Die Punkte 1 und 3 werden in dem Gutachten verneint. Bei Punkt 2 liegt die Zulässigkeit und die Grenzen von kritischen Meinungsäußerungen in Bürgerfragen - wenig überraschend - im Grundgesetz, konkret: in der Meinungs- sowie in der Pressefreiheit. Der Schutzbereich beider Grundrechte ist allerdings sehr weitreichend. Warum beschäftigt sich der Landtag Nordrhein-Westfalen in einem sechsseitigen Gutachten mit abgeordnetenwatch.de? Seit Mai 2010 können die Menschen in NRW ihre Landtagsabgeordneten im Internet befragen, das erfreut erfahrungsgemäß nicht jeden Parlamentarier. Aus dem Gutachten selbst geht nicht hervor, ob der Auftrag dazu von einer Landtagsfraktion stammt. Die fehlende Nennung einer Fraktion deutet allerdings darauf hin, dass die Expertise auf Initiative des Gutachterdienstes des nordrhein-westfälischen Landtags entstanden ist, der von sich aus immer wieder aktuelle Fragestellungen aufnimmt und bearbeitet. Dennoch dürfte das Gutachten für die Abgeordneten von großem Interesse sein, vor allem für jene, die sich mit den öffentlichen Fragen auf abgeordnetenwatch.de nach wie vor schwer tun. Denn die Expertise zeigt auf, wie eng der Spielraum ist, wenn der Bereich der Meinungs- und Pressefreiheit angetastet wird. Im Zeitalter des Internets, wo sich jede Bürgerin und jeder Bürger selbst einbringen und öffentlich Fragen stellen kann, ist es für Politiker schwierig geworden, die Kontrolle über die Kommunikation zu behalten. Da sie öffentlich gestellte Bürgerfragen auf einer unabhängigen Plattform wie abgeordnetenwatch.de nicht steuern können, scheuen einige Abgeordnete den öffentlichen Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern und setzen lieber auf kontrollierbare Kommunikationswege wie Facebook oder die eigene Website. Dort stellt sich die Frage nach der "Zulässigkeit von Meinungsäußerungen" durch Bürger gar nicht erst: Unliebsame Kommentare können einfach gelöscht werden. Bürgerfragen auf abgeordnetenwatch.de können dies nicht. Und so störten sich einige Abgeordnete in der Vergangenheit bereits an der Erstellung einer Profilseite auf abgeordnetenwatch.de, mitunter drohten sie sogar mit der Einleitung rechtlicher Schritte. Diese hätten allerdings wenig Aussicht auf Erfolg gehabt, denn als "Person der Zeitgeschichte", so das Gutachten des NRW-Landtags, müssten Abgeordnete solche Profilseiten hinnehmen, zumal es sich um Angaben aus "anderen öffentlich zugänglichen Quellen" handele. Außerdem "übersteigt das Informationsinteresse der Nutzer das Interesse des Abgeordneten, insbesondere da die Plattform als Medium zur politischen Willensbildung genutzt wird." Fazit der Autorin: "Die Verwendung der Profildaten erscheint daher unbedenklich". Immer wieder stoßen sich Abgeordnete auch an kritischen Meinungsäußerungen in den Bürgerfragen auf abgeordnetenwatch.de. Diese müssten jedoch von den Volksvertretern hingenommen werden, so das Gutachten, sofern es sich nicht um "Stigmatisierung" oder "soziale Ausgrenzung" handele bzw. eine "Prangerwirkung" entfalte. "Das ist auf der Internetseite abgeordnetenwatch.de bisher nicht erkennbar. (…) Insofern sind eine schwerwiegende Beeinträchtigung des Selbstbestimmungsrechts von Abgeordneten und damit ein Anspruch auf Unterlassung oder Löschung eines Profils auf abgeordnetenwatch.de bei Einhaltung der Regeln des Portals [womit unser Moderationscodex gemeint sein dürfte] nicht wahrscheinlich." Manchen Abgeordneten wäre es sicher am liebsten, sie würden künftig überhaupt keine Bürgerfragen mehr über abgeordnetenwatch.de erhalten. Denn unbeantwortete Anfragen geben in der Öffentlichkeit kein gutes Bild ab. Das Gutachten macht allerdings deutlich, dass die Unterbindung der Mailzusendung "rechtlich nicht möglich sein [dürfte], da die Weiterleitung an öffentlich zugängliche Emailadressen erfolgt." Daneben wird die Arbeit von abgeordnetenwatch.de durch die Pressefreiheit geschützt: Indem wir alle Fragen vor der Freischaltung gegenlesen, damit z.B. keine Beleidigungen, Massenanfragen oder Fragen zum Privatleben in den Profilen der Politiker erscheinen, werden wir redaktionell tätig. Dies fällt unter den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 S.2 GG ("Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet"). Bleibt noch die Frage zu klären, ob Abgeordnete die Frage-Antwort-Statistik auf abgeordnetenwatch.de hinnehmen müssen. "Eine hohe Quote nicht beantworteter Fragen", so die Autorin, könne zwar den "Eindruck erwecken, der Abgeordnete kümmere sich nicht genügend um die Nöte und Sorgen der Bürger". Allerdings ergebe sich daraus weder eine "Beeinträchtigung des Ehrenschutzes" noch eine "herabsetzende Verhaltensweise" – aus einem einfachen Grund: Bei der Frage-Antwort-Statistik handelt es sich um eine "bloße Wiedergabe der Fakten, d.h. von wahren Tatsachen." Fazit des Gutachtens: "Zusammenfassend überwiegen in allen angesprochenen Fragen letztlich diejenigen Gesichtspunkte, die für die Zulässigkeit der von abgeordnetenwatch.de gewählten Verfahrensweise im Verhältnis zu den betroffenen Abgeordneten sprechen." Der zentrale Satz ist jedoch ein anderer: Das Ergebnis des Gutachtens "scheint auch unter dem Gesichtspunkt gerechtfertigt, als in einer Informationsgesellschaft auch das Informationsinteresse von Wählern und Bürgern zunehmende Bedeutung gewinnt und diese deshalb ein zunehmendes Engagement zum Meinungsaustausch auch von Seiten ihrer Abgeordneten einfordern."

 

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