Frage an Rüdiger Kruse von Peter M. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrter Herr Kruse,
anlässlich des offenen Briefes einer Afghanin neutlich mit der Bitte um weitere Unterstützung durch die Bundeswehr stelle ich mir folgende Frage:
Wäre es nicht grundsätzlich sinnvoll, wenn man in Krisengebieten die Regierung und die Bevölkerung (bzw. die Mehrheiten) auffordert bzw. unterstützt, sich gegenüber der internationalen Gemeinschaft zu positionieren und sich ggf. von revolutionären Kräften (Taliban) klar zu distanzieren. Dann hätte es die Bevölkerung der Staaten, die dort ihre Kinder in den Krieg schicken, vielleicht einfacher, der politischen Linie zu folgen und müssen sich nicht fragen, ob man dort überhaupt willkommen ist. Aus meiner Sicht ist das ein ganz entscheidender Punkt.
Ist dieser Ansatz im Bundestag schon einmal diskutiert worden bzw. gibt es dazu eine klare Position?
MfG, Müller
Sehr geehrter Herr Müller,
vielen Dank für Ihre Frage bei abgeordnetenwatch zu dem Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr und der Positionierung von afghanischer Bevölkerung und Regierung gegenüber den Taliban.
Grundsätzlich stimme ich Ihnen zu, dass die Afghanen ihren Umgang mit den Taliban selbst bestimmen müssen. Die Frage nach dem Umgang mit den alten „Eliten“ stellt sich immer wieder, wenn es einen (gewaltvollen) Machtwechsel gegeben hat. So auch in Afghanistan.
Zu Beginn des Jahres 2002, nachdem die Taliban vertrieben und der Rückzugsraum der Terrororganisation Al-Qaida zerstört war, konzentrierte sich die neue afghanische Regierung auf den institutionellen Aufbauprozess. Es ging darum, eine neue Verfassung zu erarbeiten. Zu diesem Zeitpunkt spielten die Taliban keine tragende Rolle mehr im politischen Machtgefüge. Die Absicherung des Verfassungsprozesses übernahmen internationale Truppen, die mit dem Mandat „International Security Assistance Force (ISAF)“ von den Vereinten Nationen (VN) ausgestattet worden waren. Das Mandatsgebiet blieb auf die Hauptstadt Kabul begrenzt. Die afghanische Regierung und die Staatengemeinschaft waren der Ansicht, dass die Verantwortung für die Sicherheit in den Provinzen in die Hände der damals noch jungen afghanischen Sicherheitskräfte gelegt werden könne. Diese Einschätzung stellte sich als falsch heraus. Der schlechte Zustand von afghanischer Polizei und Armee ließ die Bewältigung einer solchen Aufgabe nicht zu. Dadurch konnte es zu einer Reorganisation und zu einem Wiedererstarken der Taliban kommen. In der Folgezeit, in der das ISAF-Mandat auf das gesamte Land ausgebaut wurde, bekämpften die internationalen Truppen, mit Unterstützung durch afghanische Armee und Polizei, die Talibankräfte.
Im Laufe der Jahre verfolgten die afghanische Regierung und die internationalen Truppen unterschiedliche Strategien gegen die Taliban. Diese reichten von der strikten Bekämpfung der Gruppierung bis zu Verhandlungen mit diesen. Die unterschiedlichen Ansätze der Afghanen und der Staatengemeinschaft beim Umgang mit den Taliban waren, das muss man aus heutiger Perspektive zugeben, nicht immer stringent. Dies änderte sich erst zu Beginn des Jahres 2010, als auf der Londoner Konferenz eine langfristige Strategie für die Zukunft Afghanistans beschlossen wurde. Die Ausbildungshilfe für die afghanischen Sicherheitskräfte wurde ausgeweitet, die zivile Hilfe verstärkt. Somit konnte ab 2011 eine schrittweise Übergabe der Verantwortung für den Wiederaufbau und die Sicherheit an die Afghanen erfolgen. Wichtig ist, dass der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan eine Wirkung erzielt hat. Das Land ist keine Ausbildungszentrale von Al-Qaida mehr. Den meisten Afghanen geht es heute besser als vor zehn Jahren. In den Bereichen der Bildung, der medizinischen Grundversorgung und der Infrastruktur haben wir viel erreicht. So wurden z.B. 98.000 afghanische Lehrer aus- und fortgebildet. 9,2 Millionen afghanische Kinder gehen zur Schule. Die Stromversorgung von 4,5 Millionen Menschen wurde verbessert. 1,5 Millionen Afghanen haben heute einen verbesserten Trinkwasserzugang. Die afghanischen Sicherheitskräfte sind heute eigenständig in der Lage, eine ausreichend kontrollierbare Sicherheitslage zu gewährleisten. In den Bereichen der Regierungsführung, der Korruptionsbekämpfung und der Rechtsstaatlichkeit liegt noch einige Arbeit vor uns. Deshalb wird Deutschland, wenn das ISAF-Mandat Ende 2014 ausläuft, auch weiterhin seine zivile Hilfe leisten und die afghanischen Kräfte ausbilden, beraten und unterstützen.
Beste Grüße
Rüdiger Kruse