Frage an Michael Grosse-Brömer von Patrick S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Guten Tag,
Warum werden Gesetze von der EU die die Rechte der Bürger beschneiden immer schnell durchgewunken und andere Gesetze von der EU, die die Rechte der Bürger stärken, teilweise Monate oder Jahre lang nicht umgesetzt und dabei Strafen von der EU in kauf genommen? Ich erinnere mich da an Datenschutzgesetze und auch an das Tabakwerbeverbot. MFG P. Scholtes
Sehr geehrter Herr Scholtes,
vielen Dank für Ihre Anfrage über abgeordnetenwatch.de.
Ihren Eindruck, bei der Umsetzung von EU-Rechtsakten in deutsches Recht werde differenziert zwischen Rechtsakten, die die Bürgerrechte verkürzen (zügige Umsetzung), und Rechtsakten, die die Bürgerrechte stärken (verspätete Umsetzung), teile ich nicht.
Diese Sicht der Dinge – wonach die Bundesrepublik Deutschland die Europäische Integration gewissermaßen als Mittel zur Beschneidung von Bürgerrechten missbraucht – ist falsch. Bevor ich auf die von Ihnen angeführten Beispiele Datenschutzgesetze und Tabakwerbeverbot eingehe,
möchte ich zwei grundlegende, Ihre Anfrage betreffende Aspekte voranstellen.
Zum einen lassen sich nach meiner Erfahrung nur wenige Rechtsakte eindeutig als bürgerrechtsstärkend oder bürgerrechtsverkürzend definieren. Die Freiheit des einen stellt sich oft direkt oder indirekt als Unfreiheit des anderen dar. So werden manche Bürger ein staatlich verordnetes Rauchverbot als dankenswerten Schutz ihrer Rechte betrachten, während andere wiederum darin ein Element staatlicher Bevormundung und Zwangsbeglückung sehen werden. Bei jedem Gesetzentwurf sind also die vielschichtigen Interessenslagen zu beachten.
Zum anderen möchte ich als Mitglied des Rechtsausschusses und des Unterausschusses Europarecht betonen, dass bei den Zielen, welche die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Europäischen Einigung verfolgt, neben der Friedenssicherung vor allem auch die Absicherung der Freiheit zu nennen ist. Dieser Aspekt hat seit den Anfängen der Europäischen Integration sogar noch in erheblichem Maße an Bedeutung gewonnen.
Für mich sind die Abschaffung der Grenzkontrollen, die Errichtung des Europäischen Binnenmarktes und die intensiven Schüler- und Studentenaustausche nur einige von vielen Gründen, warum wir als Deutsche weiterhin aktiv und konstruktiv an einem freiheitlichen Europa mitarbeiten sollten. Dass mit den Maßnahmen zur Erhöhung der individuellen Freiheit aber auch gemeinsame Schritte zur Gewährleistung der Sicherheit einhergehen müssen, haben die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität und vor allem jener menschenverachtende Terrorismus gezeigt, der mit den Anschlägen von Madrid und London auch vor den Toren Europas nicht halt gemacht hat. Die im Sommer dieses Jahres vereitelten Anschläge haben leider einmal mehr bewiesen, dass die terroristische Bedrohung für Europa und konkret auch für Deutschland keinesfalls unterschätzt werden darf und eine europäische Zusammenarbeit unbedingt erforderlich ist.
Hinsichtlich der von Ihnen genannten Datenschutzgesetze, die Sie wohl als Beispiele für die Bürgerrechte beschneidende Gesetze erwähnten, lassen sich die oben genannten Aspekte konkretisieren und Ihre Vorbehalte gegenüber der deutschen Umsetzungspolitik hoffentlich etwas abmildern. So hat die Richtlinie 2006/24/EG über die Vorratsspeicherung von Daten eine längere Entstehungsgeschichte und wurzelt vor allem in der Erkenntnis, dass eine effektive Bekämpfung schwerster Kriminalität in Zeiten der offenen Grenzen nur gemeinsam auf europäischer Ebene erfolgen kann. Die Bundesrepublik hat die Richtlinie vom 15. März 2006 keineswegs unkritisch „durchgewunken“ sondern die möglichen Auswirkungen auf die Bürgerrechte genauestens untersucht und abgewogen. Die möglichen Konflikte zwischen dem die Richtlinie umsetzenden Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und den von Ihnen erwähnten bürgerlichen Rechten haben auch die Mitglieder des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages sehr ernst genommen. Deshalb gab es z.B. zwei öffentliche Anhörungen zu dieser Problematik. Namentlich die Ausführungen des Richters am Bundesgerichtshof, Jürgen-Peter Graf, wonach der Gesetzentwurf im Ergebnis die verfassungsrechtlich gezogenen Grenzen – insbesondere das Recht auf informationelle Selbstbestimmung – respektiert, haben mich zu der Überzeugung kommen lassen, dass der Gesetzentwurf verfassungsgemäß ist.
Als Hinauszögerung der Umsetzung eines die Bürgerrechte stärkenden „EU-Gesetzes“ nannten Sie die Tabakwerbeverbotsrichtlinie. Es ist zwar zutreffend, dass die Bundesrepublik diese Richtlinie nicht innerhalb der Frist sondern erst lange danach umgesetzt hat, jedoch geschah dies nicht aufgrund von Erwägungen, die direkt oder indirekt mit der Beschneidung oder Erhöhung der Bürgerrechte zu tun gehabt hätten. Die Gründe für die in diesem Falle kritische Haltung der Bundesrepublik waren ausschließlich juristischer Natur. So war man von deutscher Seite der Auffassung, mit der Richtlinie würden nicht wie behauptet Ziele des Binnenmarktes (Art. 95 EGV), sondern tatsächlich der Gesundheitsschutz verfolgt, für den die EU keine Gesetzgebungskompetenz hat.
Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass bei der Umsetzung von europäischen Rechtsakten nicht nach den möglichen Auswirkungen auf die Bürgerrechte differenziert wird, sondern es hierfür in erster Linie auf die Frage ankommt, ob bei der Setzung des europäischen Sekundärrechts (z.B. Richtlinie und Rahmenbeschluss) das europäische Primärrecht (EG-/EU-Vertrag) eingehalten wurde. Meiner Ansicht nach können und sollten die Mitgliedstaaten in Zweifelsfällen die Entscheidung des EuGH einfordern.
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein tatkräftiger Befürworter eines freiheitlichen Europas. Dies hat die deutsche Ratspräsidentschaft eindrucksvoll unterstrichen. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang vor allem der Reformvertrag oder der erzielte Durchbruch beim Vorschlag eines Rahmenbeschlusses zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.
Ich hoffe, Ihnen mit diesen Ausführungen einige Ihrer Bedenken gegenüber den Motiven der deutschen Europapolitik genommen zu haben.
Mit freundlichen Grüßen
M. Grosse-Brömer, MdB