Zur Überparteilichkeit von abgeordnetenwatch.de

von Martin Reyher, 31.08.2010

 

Von Hans J. Kleinsteuber *

abgeordnetenwatch.de ist überparteilich. Natürlich. Aber was heißt das ganz konkret in Deutschland? Viele beanspruchen das Etikett, aber wir glauben ihnen nicht. So wie viele beteuern, dass sie dem Gemeinwohl dienen und doch folgen sie allein ihren Interessen. Überparteilich kommt in unserem Land in doppelter Form daher, einerseits als Mehrparteilichkeit, andererseits als Parteienferne.

Mehrparteilichkeit meint, dass sich die Hauptströmungen unserer Parteien zusammentun und gemeinsam ihre Aufgabe erledigen. Das Präsidium eines Parlaments ist so zusammengesetzt oder das Kuratorium einer Landeszentrale für Politische Bildung. Ziel ist es, gemeinsam zu entscheiden, meist kommt dabei Proporz heraus. Die größte Partei übernimmt die Chef-Funktion, die zweitgrößte den Stellvertreter und so fort. So läuft es auch in den Rundfunkräten unseres öffentlich-rechtlichen Systems oder in den Beiräten unserer Ministerien. Dabei entsteht ein kräftiger Minderheitenschutz, der allerdings das Spektrum der Parteien nicht verlässt. Wäre abgeordnetenwatch.de vom Bundestag organisiert worden, dies wäre wohl die Organisationsform der Wahl gewesen.

Das Prinzip der gemeinsamen Führung ist vielfältig in Deutschland zu finden. An der Spitze unseres Sozialversicherungssystems finden sich Vertreter von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, ehrenamtliche Richter, vorgeschlagen von den Tarifparteien unterstützen unsere Sozialrichter. Unser Land zählt deshalb in Europa zu den korporatistischen Systemen, in dem unterschiedliche Positionen in die Entscheidungsfällung integriert sind. Wir finden es ausgeprägt in Skandinavien oder auch Österreich. Es hat sich bei uns eingebürgert und hat zweifellos zur Stabilität unseres Gemeinwesens beigetragen. Es ist natürlich eine Antwort auf die scharfen Konfrontationen am Ende der Weimarer Republik, die uns in die Katastrophe der Nazi-Diktatur trieb.

Im Ergebnis entstand nach 1945 eine Parteiendemokratie, die zwar plural angelegt ist, aber außen stehenden Kräften die Mitwirkung schwer macht. Dabei fanden sich schon von Anbeginn organisierte Interessen in diesem System - bei den Rundfunkräten heißen sie „sozial relevante Gruppen“ – aber ihr Einfluss blieb vergleichsweise gering. Mehrparteilichkeit fördert den Zusammenhalt der Parteien einer Art politischer Klasse, einer Gemeinschaft von Berufspolitikern, die sich vor allem selbst bestätigt und Einflüsse aus dem Rest der Gesellschaft abblockt. Viele politisch Engagierte haben diese Erfahrung machen müssen, was sie im Bewusstsein stärkt, dass es ein Leben außerhalb der Parteien geben muss. Aus diesem Antrieb entstand in den 80er Jahren die Bewegung der meist lokalen Bürgerinitiativen. Und auf internationaler Ebene etablierten sich die NGOs, die Non.Governmental Organizations. Beide wollen von außen Einfluss nehmen, indem sie informieren, argumentieren, demonstrieren. Glaubwürdig sind sie speziell deshalb, weil sie zwar mit allen Parteien sprechen, gleichwohl gehörig Abstand halten. In dieser Parteiferne erheben sie ihre Stimme und suchen Bündnispartner in allen Teilen der politischen Klasse.

In diese zweite Rubrik parteiferner Aktion fällt auch abgeordnetenwatch.de. Es ist keine Ausgründung des Parlaments (wie z. B. die Landeszentralen für politische Bildung) sondern versteht sich als Ausdruck der Selbstorganisation der Bürger, die ihre Geschicke in die eigene Hand nehmen wollen. Unter dem abstrakten Begriff der Zivilgesellschaft wird deutlich, dass es neben Politik (Parlament, Regierung, Verwaltung etc.) und Wirtschaft (Unternehmen, Selbstständige, Gewerkschaften etc.) eine dritte gesellschaftliche Säule gibt, in der Bürger direkt aktiv werden (Initiativen, ehrenamtlich tätige Vereine, Stiftungen). abgeordnetenwatch.de ist in diesem Umfeld zuhause und wird auch von engagierten Bürgern finanziert. Die zivilgesellschaftliche Finanzierung, verbunden mit Transparenz der Haushaltsführung macht jede gezielte politische Einflussnahme fast unmöglich. Man will auf die Politik einwirken, aber mit einem ganz eigenen Instrumentarium und einem unverkennbar bürgernahen Stil.

Diese Form zivilgesellschaftlicher Aktion stellt das bestehende politische System nicht fundamental in Frage, will es aber weiterentwicklen und verbessern. Nicht zufällig hat abgeordnetenwatch.de seine Wurzeln im Verein Mehr Demokratie, der sich für direktdemokratische Willensbildung zusätzlich zur repräsentativen Demokratie, verkörpert durch das Parlament, einsetzt. Derartige Initiativen müssen demonstrativ überparteilich arbeiten, um bei Bürgern anerkannt zu werden. Die typischen Themen, die heute den aktiven Bürger beschäftigen, wie Umwelt, Frieden, Menschenrechte, liegen vielfach quer zu den Parteien und ihren Programmen. Dort werden sie meist universell anerkannt, gehen aber im permanenten Parteienstreit mehr oder minder unter.

Auch abgeordnetenwatch.de kann nur glaubwürdig bleiben, wenn es Ferne von allen Parteien demonstriert. Dabei ist abgeordnetenwatch.de alles andere als unpolitisch, es wird ja nicht von Befürwortern der Apathie und des Wahlboykotts betrieben. Vielmehr wurde es von politisch denkenden Menschen gegründet, denen Transparenz und Verantwortung in der nach wie vor von Parteien und Parlamentariern beherrschten Politik wichtig ist. Sicherlich gehen auch die Vertreter von abgeordnetenwatch.de zur Wahl, um ihre Partei zu stärken. Aber welche das ist, das tut nichts zur Sache.

Eine kleine Umfrage in dem - zugegeben - eher zufällig gewachsenen Kuratorium von abgeordnetenwatch.de ergab, dass dort CDU-Mitglieder neben ehemaligen FDPlern, Gewerkschaftler und Grün-Nahe unterwegs sind. In diesem Kreis sind Fragen der Abgrenzung zu klären – Wo beginnt die Privatsphäre der Abgeordneten? Müssen Abgeordnete Anfragen von Kindern beantworten? Tatsächlich findet sich trotz beachtlicher thematischer Breite im Kuratorium ein hohes Maß an Übereinstimmung in Sachfragen. Das ist möglich, weil nicht Parteilinien im Vordergrund stehen, sondern auf Lebenserfahrung beruhende Einschätzungen. Dieser Ansatz wird noch dadurch unterstrichen, dass in der inneren Organisation von abgeordnetenwatch.de das Kuratorium vor allem aus Honoratioren im Seniorenalter besetzt ist – wie ich auch –, während die Moderatoren durchgängig junge Leute sind, die viel näher an den Prinzipien der aktiven Zivilgesellschaft operieren. Das funktioniert recht ordentlich und ergibt so etwas wie ein generationenübergreifendes Korporatismus. Wobei gilt, dass die Konstruktion von abgeordnetenwatch.de erst wenige Jahre alt ist und Verbesserungen gegenüber offen bleiben muss. 

In der Summe: Die Überparteilichkeit von abgeordnetenwatch ist nicht einer Selbstdeklaration geschuldet, sie ergibt sich aus der täglichen Praxis, aus politischem Basisengagement und Parteiferne So kann die Stärke ihrer zivilgesellschaftlicher Organisation zur Wirkung kommen, was abgeordnetenwatch.de Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit sichert. Diese Überparteilichkeit baut auf Skepsis gegenüber dem Parteienstaat, hat aber mit populistischem Politikerbashing nichts zu tun, wie es der Boulevard gern betreibt. Vielmehr geht es darum, dem Bürger den Zugang zur Tätigkeit der Abgeordneten zu erleichtern, durch Fragen und – wenn alles gut geht – vielleicht auch einen Dialog mit Statements auf beiden Seiten.

Dabei kommt natürlich auch heraus, ob sich dieser Abgeordnete ins Zeug legt und eine klare Linie verfolgt oder seinen Job zu leicht nimmt und das programmatische Fähnlein im Wind flattert. Niemals darf sich abgeordnetenwatch.de aufs hohe Ross schwingen, die von der Politik geforderte Transparenz muss es auch selbst praktizieren. Nur so bleibt das Angebot glaubwürdig und kann seinen Beitrag für eine bessere Politik im Interesse aller Bürger leisten.

 

* Hans J. Kleinsteuber ist Professor für Politikwissenschaft und Journalistik an der Universität Hamburg - seit 2008 emeritiert. Seine Forschungsschwerpunkte sind Medien und Politik sowie Mediensysteme in Deutschland und im internationalen Vergleich (Nordamerika, Europa), Medienökonomie, Medientechnik, Regulierung, Radio und die internationale Berichterstattung. Prof. Dr. Kleinsteuber war Mitglied der Enquetekommission des Deutschen Bundestags zu "Zukunft der Medien" 1996 - 1998. Seit einem halben Jahr gehört er dem Kuratorium von abgeordnetenwatch.de an.

 

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