Anfang der 80er Jahre machten Politikwissenschaftler eine interessante Beobachtung. Nach der allerersten Europawahl im Juni 1979 fanden sie heraus, dass es hinter dem Wahlverhalten der Bürger Systematiken zu geben schien, die nichts mit der Positionierung der Parteien in Bezug auf europäische Fragen zu tun hatten. So wurden stets die jeweiligen Regierungsparteien abgestraft und insbesondere große Parteien verloren Stimmen. Auf der anderen Seite verzeichneten besonders grüne Parteien und solche, die eine extreme Position vertraten, starke Ergebnisse.
Dieses Phänomen, das 1980 von den Politologen Karlheinz Reif und Hermann Schmitt beobachtet wurde und seitdem unter der Bezeichnung „second order elections“ – also Wahlen zweiten Ranges - bekannt ist, ließ sich damals auf fast alle Mitgliedstaaten übertragen. Einiges deutete darauf hin, dass viele Bürger nicht über europäische Themen abstimmten, sondern andere, nationale Faktoren eine entscheidende Rolle spielten. Zugespitzt könnte man sagen: Die im EU-Parlament getroffenen Entscheidungen hatten nur wenig mit dem Willen der Bürgerinnen und Bürger zu tun, schließlich waren die Parteien (Abgeordneten) nach dieser Theorie nicht auf Grund ihrer inhaltlichen Positionierung gewählt worden.
Das allerdings wäre fatal, da sich in einer Demokratie der Wählerwille im Ergebnis der Wahl wiederspiegeln soll. Kurzum: Der einzigen direkt gewählten EU-Institution würde ihre Legitimationsgrundlage fehlen.
Inzwischen sind mehr als drei Jahrzehnte vergangen. Das Europäische Parlament hat in dieser Zeit zwar immer mehr Entscheidungsmacht hinzugewonnen, gleichwohl halten viele Bürger die Europawahl für eine untergeordnete, ja sogar unwichtige Wahl. Bei der Europawahl 2009 gingen gerade noch 43,3% der wahlberechtigten Deutschen zur Wahl, in der Slowakei waren es nur 13%.
Warum haben Europawahlen in den Augen vieler nur eine untergeordnete Rolle?
Der erste Erklärungsansatz hierfür setzt bei den Parteien an: Zum einen stecken die Parteien wesentlich geringere Summen in ihren Europawahlkampf als in ihren Bundestagswahlkampf. So gaben beispielsweise sowohl die FDP als auch die Grünen für ihre Europawahlkampagne 2014 ca. drei Viertel weniger aus.
Politikwissenschaftler kritisieren auch die Art und Weise, wie der Europawahlkampf der Parteien gestaltet wird. Sie werfen ihnen hierbei vor, vor allem mit nationalen Themen um Wählerstimmen zu werben, in dem sie in ihrer Wahlwerbung vorrangig nationale Thematiken ansprechen und nationale Politiker zu Wort kommen lassen. Diese Aussagen belegt die Wissenschaft mit der systematischen Untersuchung von Wahlprogrammen, Wahlplakaten und anderer Wahlwerbung.
Ein zweiter Erklärungsansatz setzt bei den Wählern an: Zum einen wird ihnen vorgeworfen, sich nicht mit europäischen Thematiken auseinandersetzen zu wollen. Diese Verweigerung kann entweder daher kommen, dass sie die Politikbereiche, die auf europäischer Ebene bearbeitet werden, tatsächlich für unwichtig halten. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass vielen Bürgern nicht bewusst ist, welch weitreichenden Einfluss Entscheidungen des EU-Parlaments auf ihr persönliches Leben haben - auch wenn sich einige EU-Mythen - obwohl längst widerlegt - nach wie vor halten. Zum Beispiel das angebliche Glühbirnenverbot, das nicht etwa in Brüssel erfunden wurde (sondern in Berlin) oder die Sache mit dem Krümmungsgrad der Gurke (ein Wunsch der Industrie).
Neue Rahmenbedingungen 2014
Die Europawahl 2014 fand unter veränderten Rahmenbedingungen statt, die die Chance für einen „europäischen“ Europawahlkampf boten: Zum einen wurden mit der Aufstellung europäischer Spitzenkandidaten sowie den TV-Duellen der europäischen Spitzenkandidaten Plattformen geschaffen, auf denen gezielt europäische Thematiken in die mediale Öffentlichkeit gelangten. Zum anderen trat mit der AfD erstmal eine Partei in Deutschland an, die sich klar gegen Bestandteile des europäischen Integrationsprozesses wendet und der mit einer Wahlvorhersage um die 7% eine relevante Position vorhergesagt worden war.
Die Europawahlen 2014 - tatsächlich europäischer?
Nun stellt sich die Frage, inwieweit sich die angesprochenen Faktoren tatsächlich auf den Wahlkampf und das Wahlverhalten ausgewirkt haben. Sind die Europawahlen 2014 also tatsächlich europäischer geworden? Einige Faktoren scheinen hierfür eine klare Bestätigung zu geben: Die Wahlbeteiligung stieg im Vergleich zur Wahl von 2009 um knapp 5%. Außerdem wurden einige Dynamiken, die für „Wahlen zweiten Ranges“ typisch sind, nicht vorgefunden: Weder wurden die Regierungsparteien CDU und SPD abgestraft, noch konnten die Grünen und die anderen bereits im Europaparlament vertretenen Oppositionsparteien starke Gewinne verzeichnen. Die Europawahlen 2014 können in Deutschland also nicht als typische „second order elections“ bezeichnet werden.
Auch die Positionierung der Parteien im Europawahlkampf lässt durchaus auf eine Europäisierung schließen: Insgesamt erhielten europäische Thematiken einen größeren Stellenwert in den Wahlprogrammen und in den Plakatkampagnen, während nationale Thematiken wesentlich weniger angesprochen wurden. So verkleinerten die CDU, die Grünen und die Linke die nationalen Inhalte ihrer Wahlplakate zum Teil deutlich. SPD und FDP blieben wie schon in der Europawahl 2009 bei einem sehr europäisch ausgerichteten Wahlkampf.
Ebenfalls konnte eine Steigerung der Wahlkampfausgaben im Vergleich zu den Bundestagswahlen festgestellt werden. Dies war sowohl bei der SPD, den Grünen und auch bei den Linken der Fall. Die CDU blieb auf dem selben Niveau wie 2009. Einzig die FDP fuhr ihre Wahlkampf-Ausgaben stark zurück.
Auf der anderen Seite spiegelte sich jedoch nicht in allen Wahlkampagnen wieder, dass die Parteien erstmals europäische Spitzenkandidaten nominiert hatten. Insbesondere bei der CDU, die mit Bundeskanzlerin Angela Merkel auf vielen Flächen eine nationale Politikerin plakatierte, war vom konservativen Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker wenig zu sehen. FDP, Grüne und SPD warben auf ihren Plakaten allerdings häufig mit den europäischen Spitzenkandidaten.
Auch die TV-Duelle hatten nur sehr niedrige Einschaltquoten. Die erste Diskussionsrunde im ZDF verfolgten beispielsweise nur 1,79 Millionen Zuschauer. Das TV-Duell zur Bundestagswahl 2013 sahen rund 17,6 Millionen Menschen.
Fazit: Die Europawahl 2014 wurde sowohl von den Bürgern als auch von den Parteien als wichtiger erachtet als noch 2009. Doch auch wenn hier ein klar positiver Trend erkennbar ist, sollten die negativen Aspekte nicht übersehen werden: Dass auch 2014 mehr als die Hälfte aller Wahlberechtigten zu Hause geblieben ist, sollte den Parteien ein klares Zeichen sein. Auch wenn sich die große Mehrheit der Parteien in ihrer positiven Haltung gegenüber der EU einig ist, sollten sie vor der Bevölkerung diese Haltung rechtfertigen und begründen, um der europäischen Politik eine noch größere Öffentlichkeit zu verschaffen.
Hieraus lassen sich sowohl für die Parteien als auch für die Wähler klare Handlungsempfehlungen ableiten: Die Parteien sollten (nicht nur im Wahlkampf) den Bürgern noch stärker vermitteln, warum die EU wichtig ist, welche Entscheidungen vom Europäischen Parlament getroffen werden und wurden und für welche Positionen sie sich einsetzen. Auf der anderen Seite sollten sich die Wähler darüber im Klaren sein, welch wichtige Institution das Europäische Parlament geworden ist. Es lohnt sich herauszufinden, welche Partei die eigene Position am besten vertritt, um nicht eine kleine Minderheit über die Geschicke der EU entscheiden zu lassen - und dem EU-Parlament so seine Legitimationsgrundlage zu entziehen.
Jan Schwalbach
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Foto: EU Parliament / Flickr / CC BY-NC-ND 2.0