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Frage von Michael H. •

Frage an Alexander Bonde von Michael H. bezüglich Innere Sicherheit

Sehr geehrter Herr Bonde,

im Rahmen meiner Diplomarbeit beschäftige ich mich mit dem Themenkomplex „politischer Sprachgebrauch und Gesellschaft in Bezug auf das deutsche Militärengagement in Afghanistan“. Diesbezüglich würde ich Ihnen gerne folgende Frage stellen.

Befindet sich die Bundeswehr in Afghanistan heute in einem Krieg?

Vielen Dank für Ihre Antwort.

Mit freundlichem Gruß
Michael Heinrich

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Heinrich,

ich bedanke mich für Ihre Frage.
Ich möchte Ihnen auf diese Frage gleich zweimal antworten, einmal in einer Kurzversion, einmal in einer ausführlicheren Variante, die dem Anspruch im Rahmen Ihrer Diplomarbeit stärker gerecht wird. Denn die Frage "Befindet sich die Bundeswehr in Afghanistan heute in einem Krieg?" ist nur vermeintlich einfach zu beantworten. Meiner Ansicht nach ist ein "Ja" ebenso falsch wie ein "Nein."

Zunächst die Kurzversion:
Gegenfrage zu Ihrer Frage: Wie definieren Sie "Krieg"?
Denn genau hier liegt das Problem. Völkerrechtlich gesprochen? Ein zwischenstaatlicher Krieg im völkerrechtlichen Sinne liegt nicht vor. Der ISAF-Einsatz der NATO hat von den Vereinten Nationen einen "Unterstützungs- und Stabilisierungsauftrag" und eben kein Kriegsmandat - also kein Krieg. Wenn Sie allerdings die Bundeswehrsoldaten aus den Einsatzgebieten sprechen, hören Sie allerdings recht schnell - und verständlicherweise - die Definition "Wenn mir Kugeln um die Ohren fliegen, herrscht Krieg".

Die Situation in Afghanistan in so komplex und regional verschieden, dass eine pauschale Kategorisierung in "Krieg" oder "Nicht-Krieg" (Frieden?) der Sachlage nicht gerecht wird. Wir haben in Teilen des Landes - zunehmend auch in Kunduz - "kriegsähnliche Situationen" oder "kriegerische Gewalt". Wir haben in vielen Teilen des Landes "nur" ein hohes Niveau an Kriminalität. Wir haben Bereiche, in denen Kriminalität, Terrorismus und Guerillakrieg fließend ineinander übergehen.
In der politischen Afghanistandebatte ist die "Kriegs-Debatte" daher politisch nicht hilfreich, denn sie versucht eine sehr komplizierte und komplexe Situation, die regional auch noch stark unterschiedlich ist, auf einen Begriff zu reduzieren. Und dieser Kriegs-Begriff ist dann noch vage und erlaubt scheinbar möglichst einfache Antworten auf gar nicht einfache Fragen.
Die Kriegsdebatte verstellt den Blick auf die Situation in Afghanistan und auf die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme des Landes, die wir helfen wollen zu beseitigen. Die Kriegsdebatte wird aber regelmäßig populistisch instrumentalisiert:
Von der einen Richtung - Volker Rühe und anderen - die mehr Soldaten fordern und generell finden, dass vor allem die Deutschen "viel zu soft", nicht robust und "offensiv" genug militärisch vorgehen.
Von der anderen Richtung wird die Bezeichnung Krieg verwendet - besonders gerne durch die Linkspartei - weil man damit die komplexen Fragen leichter ausblenden und die Forderung nach einem Sofortabzug besser begründen kann.

Damit muss man aber auch die Bundesregierung und vor allem Verteidigungsminister Franz Josef Jung klar kritisieren: Auf die Frage, ob Krieg herrsche oder nicht, kann man nicht mit einem klaren "Nein" antworten! Entweder, man nimmt sich der komplexen Frage auch in ihrer Komplexität an, oder man erklärt, dass man die Frage für falsch hält. Aber ein vermeintliches Schönreden ist der falsche Weg.

Soweit zur Kurzversion meiner Antwort. Und nun noch etwas ausführlicher:

"Politik beginne mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit" so wird Kanzlerin Merkel zitiert. Eine realitätsnahe Wahrnehmung Afghanistans wird erschwert durch die mehrfache Fragmentierung des Landes, die Unübersichtlichkeit zahlloser internationaler, nationaler und lokaler Akteure, den Propagandakampf der Konfliktparteien und die Gewalt- und Militärfixiertheit der öffentlichen Wahrnehmung, wo "good news" keine Aufmerksamkeit finden.
Die von Provinz zu Provinz und Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedliche Konfliktkonstellation und der dementsprechend sehr unterschiedliche ISAF-Einsatz lässt sich nicht angemessenen mit einem einzigen Wort beschreiben. Wer den ISAF-Einsatz ungeachtet der harten Kämpfe gerade im Süden und Osten weiterhin Friedenseinsatz nennt, beschönigt ihn gnadenlos. Dort herrscht in vielen Distrikten ein asymmetrischer Konflikt, wo sich die meisten Konfliktparteien im Krieg sehen. Wer jetzt für ISAF den Krieg ausruft, fällt zurück in den Irrweg des "War on Terror" und tappt in die Eskalationsfalle der Terrorgruppen.

Fakt ist: Die bewaffneten Aufständischen haben seit April 2009 in einzelnen Distrikten der Provinz Kunduz ihre Taktik geändert. Sie begnügen sich dort nicht mehr mit Überfällen nach der Methode "hit and run", sondern greifen mit Mehrfachhinterhalten und Gefechten über mehrere Stunden an (Diese Entwicklung zeigte sich in den Hauptkonfliktprovinzen des Südens und Ostens schon seit einiger Zeit.) Auf der taktischen Ebene einzelner Distrikte führt ein Gemenge von einigen hundert Gewaltakteuren einen Guerillakrieg gegen Regierungsvertreter, afghanische Polizei und Armee und ISAF. Die Soldaten in der Provinz Kunduz stehen in einem (Klein-) Krieg, wenn sie überfallen und beschossen werden, wenn sie nach sieben Jahren deutschem Afghanistan-Einsatz jetzt erstmalig im Kampf Gegner töten. Für die Taliban ist offenbar der Raum Kunduz der strategische Hauptangriffspunkt im Norden im Vorfeld der afghanischen und deutschen Wahlen. Um diese Kriegssituation darf es - wie von der Bundesregierung vorgeführt - kein Drumherumreden und Beschönigen geben.

Fakt ist zugleich: In großen Teilen der Nordregion (1.200 x 400 km) wie auch des Westens und Zentralafghanistans herrscht kein Kleinkrieg, ist das kriminelle Gewaltniveau nichts desto weniger erheblich. Für afghanische Verhältnisse gilt das dennoch als relativ ruhig. In diesem Umfeld finden Aufbau und Entwicklung statt, geht es voran. Die Provinz Balkh mit Mazar-e-Sharif steht beispielhaft dafür.

Fakt ist zugleich: Der strategische Auftrag von ISAF ist - basierend auf einem UN-Mandat - unverändert Sicherheitsunterstützung für die legale afghanische Regierung, Schaffung eines sichereren Umfeldes für Helfer und Schutz der Bevölkerung. Die Bundeswehr führt keine eigenständigen Militäraktionen durch, sondern unterstützt die afghanischen Sicherheitskräfte bei der Durchsetzung des - realiter noch sehr schwachen - staatlichen Gewaltmonopols gegen solche, die mit Waffengewalt den zivilen Aufbau attackieren. Dabei ist ISAF auch zu militärischem Zwang im Rahmen der Verhältnismäßigkeit, also auch Kampfeinsätzen berechtigt. In der UN-Sprache heißt das Peace-Enforcement (Friedenserzwingung). Den UN wie auch Spitzenmilitärs ist bewusst, dass die Gewaltkonflikte in Afghanistan militärisch nicht zu lösen sind, dass die Förderung von Staatlichkeit, greifbare Aufbauerfolge und vor allem die Eindämmung der Konfliktherde in Pakistan das A und O sind.

Krieg ist ein organisierter gewaltsamer Massenkonflikt, wo der Konflikt mit Hilfe umfassender tödlicher Waffengewalt entschieden werden soll. Ziel ist die militärische Zerschlagung eines Gegners. Faktisch sind Kriege Ausdruck von Politikversagen und massivste Verletzung von Menschenrechten. UN-mandatierte Zwangsmaßnahmen, die oft in einem kriegerischen Umfeld stattfinden, können bis zum Einsatz militärischer Kriegsgewalt gehen. Vom Krieg unterscheiden sie sich aber grundsätzlich durch ihre völkerrechtliche Legitimität, Zielsetzung (Sicherung bzw. Wiederherstellung von Frieden, internationale Rechtsdurchsetzung, Förderung selbsttragender Sicherheit), Einsatzbeschränkungen (Rules of Engagement, Verhältnismäßigkeit), Einsatzformen (Ausbildung, Key-Leader Engagement und Vermittlung, Nothilfe, Aufbauunterstützung, Präsenz- und Aufklärungspatrouillen, ggf. Kampf), Akteure (Multinationalität) und diplomatisch-militärisch-ziviles Zusammenwirken (Multidimensionalität, integrierter Einsatz).

Auch wenn es nicht griffig in eine Überschrift passt: In der Sprache des humanitären Völkerrechts herrscht in Afghanistan unzweifelhaft ein (internationalisierter) innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Der ISAF-Einsatz der Bundeswehr ist nach den jüngsten Verschärfungen am angemessensten als "Stabilisierungsmission mit Aufstandsbekämpfung" im Auftrag der UN beschrieben. Trotz aller Selbstverständlichkeit, mit der in den USA von Krieg gesprochen wird und vielen als legitimes Mittel von Politik gilt - in der US-Militärdoktrin fällt der Afghanistan-Einsatz unter die breite Kategorie "Military operations other than war" (MOOTW), die eine Vielfalt von militärischen Operationen unterhalb der Schwelle des offenen Krieges umfasst (vgl. Jochen Hippler: "Counterinsurgency" - Neue Einsatzformen für die NATO? Politik und Zeitgeschichte 43/2006). (Das "Human Security Report Project" an der Simon Fraser University/Canada definiert einen bewaffneten Konflikt mit mehr als 1.000 "battle-deaths" als Krieg. Diese Definition halte ich für unzureichend. www.hsrgroup.org).

Wer jetzt leichtfertig für Afghanistan den Krieg ausruft, fördert die Illusion einer militärischen Konfliktlösung und erteilt Bemühungen um - zumindest partielle - Verhandlungslösungen eine Absage. Es läuft auf den Abschied aus dem UN-Mandat für ISAF und eine Enthemmung und Gewalteskalation hinaus. Das ist geschichtsblind angesichts eines afghanischen Volkes, das nie Invasoren geduldet und sie immer blutig vertrieben hat.
Das ist ignorant, ja absurd angesichts der aktuellen Wende in der US-Strategie, die sich vom ausdrücklichen Krieg gegen den Terror verabschiedet und hinwendet zu einer Aufstandsbekämpfung unter dem Primat der Politik, in deren Mittelpunkt der Schutz und die Zustimmung der Bevölkerung vor Ort stehen sollen.

Die Ausrufung des Krieges - verbunden mit der unterschiedslosen Erklärung Afghanistans zum Kriegsgebiet hätte - z.T. fatale - Konsequenzen:
- Enthemmung der militärischen Gewaltanwendung mit der Gegnervernichtung als vorrangigem Ziel;
- Entkriminalisierung und Aufwertung von Terrorkämpfern zu Kombatanten: Polizistenkiller werden auf eine Stufe mit der Regierung gestellt;
- Abschreckung und Abzug von zivilen Experten sowie Polizeiberatern, die unter Kriegsbedingungen kaum noch arbeiten wollten und dürften, von denen in Wirklichkeit aber dringend viel mehr gebraucht werden;
- Delegitimierung des ISAF-Einsatzes und weiterer Zustimmungsrückgang in der deutschen Bevölkerung, deren Kriegsaversion keine sicherheitspolitische Unreife, sondern ein zivilisatorischer Fortschritt ist;
- Steilvorlage für eine "Linke", die von Anfang an den UN-mandatierten ISAF-Einsatz wie alle anderen Auslandseinsätze als Kriegseinsätze verzerrt. Bestätigung fände damit eine Art von Parteipolitik, die alle ISAF-Unterstützer als "Kriegsparteien" denunziert, um sich darüber als einzige "Friedenspartei" zu profilieren. Unbeachtet bleibt dabei, dass ein Lafontaine bisher immer nur ein propagandistisches, nie ein konkret politisches Interesse an Afghanistan und seinen Menschen zeigte, dass er Friedenspolitik simuliert, aber nicht konkret werden lässt. (Letztes Beispiel dafür war der Gysi-Auftritt bei Anne Will am 23. August: Mit seiner richtigen Allgemeinaussage, dass Terrorismus nicht mit Krieg zu bekämpfen sei, unterstellt er ISAF eine Kriegsstrategie und -ideologie und ignoriert alles Konkrete - UN-Auftrag, Einsatzregeln und -realität von ISAF. "Die Wahrheit ist konkret": Das gilt nicht für die Vertreter der unterschiedslosen Rhetorik.)

Die Soldaten in Kunduz haben ein Recht darauf, dass ihre erlebte Kriegssituation offen beim Namen genannt und anerkannt wird. Sie wissen zugleich, dass man die taktische Ebene nicht mit der strategischen Ebene in eins setzen kann.
Mit Beunruhigung höre ich aber regelrechte Kriegstrommler hierzulande:
- Solche, die die bisherigen gewaltarmen Bundeswehreinsätze offenbar als einen Makel empfinden und endlich "kriegsfähig wie die anderen" werden wollen;
- Solche, die UN-Friedenssicherung insgesamt zu Kriegseinsätzen verdrehen.
Hier zeigt sich, wie überfällig eine breite sicherheits- und friedenspolitische Debatte und Verständigung in der Bundesrepublik ist. Wo Bundesregierungen regelmäßig entsprechende Chancen verpassten, ist es ein schwacher Trost, dass diese Debatte relativ am meisten bei den Grünen geführt wurde - oft stellvertretend für die Gesellschaft.

Mit freundlichen Grüßen

Alexander Bonde